Stein oder Nicht Stein

Die einen schlafen besser mit einem Tesla in der Garage, die anderen mit einem Rosenquarz unter dem Kopfkissen. Letztere finden wir interessanter

Von Sara Geisler

Wann immer Sonne, Erde und Mond genau auf einer Linie liegen, wandert Georgie wie eine Hirtin durch die Wohnung und sammelt ihre Steinchen ein. Der Amethyst grast in der Küche, der Schildkrötenanhänger aus Hämatit weidet auf dem Fensterbrett und der Brocken Himalajasalz unter dem Spiegel im Bad. „Das hier muss auf jeden Fall mit“, sagt Georgie und hält ein Bäumchen aus Rosenquarz in die Luft, „das hat mir meine Mutter geschickt.“ Wenn die Herde beisammen ist, geht es nach draußen in den Park. 
Am Ufer des Berliner Engelbeckens packt Georgie die Steine aus und setzt sich neben sie. „Der Teich reflektiert das Licht, alles glitzert und glänzt“, sagt Georgie. Es sieht dann aus, als schiene der Vollmond von oben und unten gleichzeitig – an sich schon ein magischer Moment. Doch während sie dort sitzt, passiert noch etwas anderes. Etwas, für das sie manche schief anschauen werden, dessen sich Georgie Pope aber so sicher ist, dass hier ruhig ihr Nachname stehen soll. 
Die Steine schlucken die Energie des Mondes gierig hinunter und speichern sie ab wie eine Batterie den Strom im Schnellladegerät. Zwei, drei Stunden später, und sie sind wieder fit: Der Rosenquarz lindert dann ihr Heimweh nach Australien, der Hämatit passt auf, dass Georgie beim Radfahren in keinen toten Winkel gerät, und das Himalajasalz schützt ihre Gesundheit . 
Georgie ist 32. Wenn sie nicht gerade Steine auflädt, vermittelt sie Kunst in einer Berliner Privatsammlung oder arbeitet an ihrem eigenen Kunstprojekt. Wäre es nicht so kalt – wegen Corona sind alle bodentiefen Fenster ihrer Kreuzberger Wohnung gekippt –, man bliebe nach dem Interview gern noch ein bisschen sitzen. 
Nicht nur mindestens ein Dutzend von Georgies Freundinnen vertraut der Kraft der Steine – auch Promis wie Kylie Jenner, Kate Hudson und Katy Perry. Joachim Löw trägt bei Meisterschaftsspielen ein Armband aus Hämatit (gut gegen Blutergüsse) und der Schweizer Bundesrat Alain Berset während Pressekonferenzen eines aus Tigerauge (hilft bei wichtigen Entscheidungen). 
„Metaphysik der dummen Kerle“ nannte Adorno Okkultismus einst. Heute haben spirituelle Menschen oft Abi, wohnen in Städten und kreuzen auf Umfragebögen in zwei von drei Fällen „weiblich“ an. Früher gab es Heilsteine bei Astro-TV zu kaufen oder auf Wochenmärkten. Jetzt stehen sie in Drogeriemärkten im Regal. Es gibt Roller aus Jade und Massagesteine aus Rosenquarz. Der Granatring von Galeria Kaufhof vertreibt böse Träume, und Real bietet eine Energetisierung von innen: sieben Rohsteine im Baumwollsäckchen für 14,95 Euro. Ist da was dran? Wenn ja: Ist das unsere Rettung? Wenn nein: Ist das unser Untergang?

Ein Geologe, der mit mehreren Tausend Mineralien zusammenlebt

In Sascha Staubachs Haus in Wehrheim, in diversen Vitrinen und Schubladen, verstauben um die 3.000 Steine, auch wenn er niemals „Steine“ sagen würde, sondern Mineralien, Kristalle und Gesteine. Er hat alle 3.000 genau kategorisiert nach Art und Herkunftsort. „Ach, wahrscheinlich sind es längst 4.000“, beichtet er am Telefon. 
Staubach ist nicht nur im Herzen Geologe, sondern auch von Berufs wegen, und zwar an der Frankfurter Goethe-Universität. Auf Mineralienmessen wollen Menschen immer wieder von ihm wissen, welcher Stein Durchfall stoppt oder zerbrochene Herzen heilt. Irgendwann begann er, Vorträge darüber zu halten, was Steine können und was nicht. Inzwischen ist Staubach auch Mitglied eines Vereins Namens GWUP: Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften, eine Art Verbraucherzentrale für alles Übernatürliche. 
„Natürlich können Mineralien und Kristalle Energie abgeben“, sagt Staubach. In Kohle zum Beispiel stecke fossile Sonnenenergie. Wenn man sie anzündet, kommt die Energie als Wärme wieder heraus. Und ja, es gebe auch Mineralien, die mehr Energie abgeben, als hineingesteckt wurde. „Die legt sich aber keiner unters Kissen“, sagt Staubach. Die sind nämlich radioaktiv. 
Man kann heute winzigste Energien aufzeichnen, erklärt der Geologe, kleinste Atome zählen, einzelne Elektronen, ja sogar Quantenzustände messen. Mag sein, dass manche Menschen Schwingungen spüren, wenn sie einen Amethyst streicheln. Aber messbar, sagt Staubach, sind sie nicht. Er findet das nicht weiter schlimm, solange die Menschen im Notfall keine Chemo ablehnen. 
Aber da ist natürlich noch die Sache mit der Abzocke. Die Geologie kennt um die 5.300 Mineralien. Als Heilsteine benutzt werden aber nur ungefähr hundert. Das wichtigste Kriterium? „Sie müssen einfach zu beschaffen und billig im Einkauf sein“, sagt Staubach. Bergkristall zum Beispiel könne man in rauen Mengen abbauen, das beschere schon mal eine Marge von ein paar Hundert Prozent. 

Eine Unternehmerin, die zwanzig Mitarbeiter mit ihrem Edelsteinhandel ernährt

An einem Donnerstagvormittag im Süden Berlins packt Angelika Lenz eine Lieferung Schwingungen aus. Vierzig Zentimeter hoch, siebzig Zentimeter breit und dem Anschein nach tausend Kilo schwer. Lenz, die früher Informatikerin war und heute Rosenquarz gegen Elektrosmog verkauft, hievt das Paket allein auf den Tresen. Unter anderem packt sie aus: zwölf Kilo Achatplatten, fünf Kilo Bergkristalle, zwanzig Packungen Obsidian, vier Kilo Amazonit und noch mal so viel Tomalin. „In unserem Jeschäft muss man uffpassen“, sagt sie. Ein paar von den Amethysten hätten ganz schön viele weiße Stellen, und die Heliotropen seien zwar gut poliert, aber die Qualität des Steins sei minderwertig. „Bestell ick nich mehr.“ 
Wie hoch der Gewinn bei den Bergkristallen ist? Betriebsgeheimnis, sagt Lenz. Die Löhne von zwanzig Mitarbeitern plus die Mieten für mehrere Filialen in Berlin, Brandenburg und Sachsen – ein bisschen was müsse man da schon draufschlagen. Wie alt sie ist, will Lenz auch nicht sagen. Ihr Mann und sie hätten das Edelsteinhaus aber vor dreißig Jahren gegründet, da wäre sie gerade dreißig gewesen; dann könne man sich ditt ja ausrechnen. 
Auf vier Etagen lagern hier Steine, manche roh, andere geschliffen, so groß wie Knopfbatterien oder wie Grundschüler. Dazu kommt der überdachte „Edelsteingarten“ hinter dem Haus, angeblich über tausend Quadratmeter groß. Draußen trägt Angelika Lenz einen schwarzen Daunenmantel von Moncler, drinnen bei der Inventur einen weißen Mund-Nasen-Schutz. Dreimal muss sie ihre Arbeit unterbrechen: Einmal ruft ein Kunde an, der sich verfolgt fühlt. „Schwarzer Tomalin“, rät Lenz. „Sindse viel unterwegs? Dann würd ick ’nen Taschenstein nehmen.“ Einmal kommt ein junger Mann Ende zwanzig vorbei, Großhandelskaufmann für Holz- und Baustoffe. Er hat sich auf YouTube alle Videos über Wilhelm Reich angeschaut und will sich jetzt einen Orgonit basteln. Rein darf er nicht – Corona! –, aber sich mal im Garten umsehen. Und dann klopft noch ein weißhaariges Paar an. Lenz hat zwar zu, aber den beiden ist das Lämpchen im Edelsteinbrunnen kaputtgegangen. Da sucht sie ihnen schnell ein passendes raus. 

Man kann in der Menschheitsgeschichte zurückscrollen, so weit man will, es findet sich immer ein Stein, auf den es sich zu klicken lohnt. Von den Steinkugeln aus Le Moustier über den heiligen Stein der Kanaaniter bis zum Devil’s Eye in Cornwall. Wissenschaftlich mit Steinen befasst haben sich Menschen seit der Antike. Thales von Milet wusste schon, dass sie aus Schmelze entstehen können oder aus Sedimenten. Dann kam Theophrastos von Eresos und ein paar Jahrhunderte später Plinius der Ältere. Er war quasi das Wikipedia der Antike. Allein über Steine hat er Hunderte Einträge verfasst. Damals, 60 nach Christus, klang alles noch sehr nüchtern. Bei Isidor von Sevilla, 600 Jahre später, schlich sich langsam etwas Religiöses in die Texte, bei Marbod von Rennes wurde es mehr, und ganz aus war es dann bei Hildegard von Bingen, 1150 nach Christus. 

Kunden, die Kristalle für 10.000 Euro erstehen

Hinter den vergitterten Fenstern bei Angelika Lenz in Rudow gibt es Mineralien für unter einem Euro und welche für weit über hundert. Angelika Lenz deutet auf eine kleine Meteoritenscheibe in der Vitrine: „Den Pallasit hier hab ick grade für 10.000 Euro verkooft.“ Einige ihrer Kunden würden Steine aus rein ästhetischen Gründen kaufen, sechzig bis siebzig Prozent aus esoterischen. Lenz selbst steckt sich einen Saphir in den Mund gegen Halsweh und einen Bergkristall in ihre Orchidee gegen Läuse. Als Heilsteine bewerben darf sie ihre Mineralien aber nicht. „Schreibense besser: Wird nachjesagt, die natürlichen Heilkräfte des Menschen zu unterstützen.“ Sie will nicht wieder eine Abmahnung bekommen. Einmal hat sie 250.000 Flyer überkleben müssen. 
Lenz kann Vorträge halten über die prophylaktische Wirkung von Lasurit und reden über Plattentektonik und den Druck, unter dem vor Abermillionen Jahren Steine entstanden sind. Die Bibliothek der TU Berlin, Abteilung Mineralogie-Geologie, kann sie jedem empfehlen. „Ick sag meinen Kunden immer: Informiert euch! Gloobt nicht alles, was euch erzählt wird.“ Viele Heilpraktiker könnten doch Achat nicht von Rubin unterscheiden. Überhaupt, neun von zehn seien Scharlatane. 

Eine evangelische Reiki-Meisterin, die früher Juristin war

Sonntagnachmittag in Berlin-Lichtenrade. Draußen tobt ein Schneesturm, drinnen zündet Kornelia Haunschild eine Duftkerze an. Sakura – japanische Kirschblüte. Es dominieren Ocker und Orchideen, Rattan und Rosenquarz. Der Blutdruck sinkt augenblicklich. Kornelia Haunschild, blonde Haare, strahlende Haut, ist 45 und Reiki-Meisterin. Menschen kommen zu ihr, damit sie ihnen Hände und Steine auflegt. Einige auch, um selbst zu lernen, wie das geht. Achtzig Euro kosten eineinhalb Stunden, das Auflegen von Edelsteinen noch mal fünf bis fünfzehn Euro extra. Manche wollen durch die Energieübertragung ihre Flugangst loswerden oder einen Burn-out, andere schwanger werden, wieder andere einfach mal wieder durchschlafen. Unter ihren Klienten sind Studentinnen und Rentner, Sechs- und Siebenundsiebzigjährige . 
Seit fünfeinhalb Jahren arbeitet Haunschild mit Steinen. Ihre halbe Küche ist voll mit ihnen, mindestens vierzig verschiedene liegen in Schüsseln und Bechern auf der Arbeitsplatte. „Hier liegt Ametrin“, sagt Haunschild und zeigt auf eine braune Schale, „damit die Gehirnhälften gut harmonieren. Da haben wir Magnesit“, sie greift nach einem rauen weißen Stein, „hilfreich bei depressiver Verstimmung. Und grüner Aventurin – bei Ängsten.“ 
„Und was ist das hier?“ 
„Das ist einfach nur ein Wasserglas.“ 
Und dann ist da noch ein Kreuz. Haunschild glaubt an Gott, sie ist evangelisch. Ob sich das nicht irgendwie ausschließe? Ein langer Blick aus ihren jadegrünen Augen. „Nein, wieso?“

Tippt man „Reiki Berlin“ bei Google ein, kommt man gleich auf ihre Praxis. Erst wollte Haunschild eine SEO-Firma engagieren, „aber die wollten 20.000 Euro und meinten, es würde ungefähr ein Jahr lang dauern.“ Stattdessen hat dann Haunschilds Lehrer Fernreiki-Energien geschickt. Ein paar Tage später, und die Website war nicht mehr auf Seite sieben, sondern auf Seite eins. Dort steht, und Haunschild weist auch mehrmals darauf hin, dass „die in der Steinheilkunde beschriebene heilende Wirkung von Steinen wissenschaftlich nicht nachweisbar und medizinisch nicht anerkannt ist“. Eine Vorsichtsmaßnahme, sagt Haunschild, die früher Anwältin war. Neben der Abfindung hätte sie aus dem alten Job eines mitgenommen: Genauigkeit. „Ich greife auch bei den Steinen nicht einfach zu irgendwas“, sagt Haunschild.

„Und dieser Herzanhänger , mit dem Sie die Steine auspendeln, wo haben Sie den her?“ 
Auf einmal wird Haunschild ganz still, mindestens zwei Atemzüge lang. „Der ist von meiner Mutter“, sagt sie dann. Und plötzlich fließen Kornelia Haunschild Tränen in den Mundschutz, als wäre ihre Mutter erst gestern gestorben. Dabei war das schon 2006. An dem Tag, sie schaut selbst ein bisschen überrascht, als sie es erzählt, hat sie das erste Mal Schwingungen gespürt. „Schwingungen – solche Wörter habe ich davor nicht benutzt“, sagt sie, aber mehr zu sich selbst. In dem Hospiz in Neukölln, eine Stunde nachdem der Unterleibskrebs ihre Mutter besiegt hatte, waren sie aber so stark, dass es gar kein Entkommen gab. Vor Energie vibriert habe die Luft. „Damit hat alles begonnen.“ 
Die Mutter konnte nicht dabei sein, als ihre Tochter umzog. Ihren Mann konnte sie nie kennenlernen und die zwei Kinder auch nicht. „Zumindest nicht körperlich“, sagt Kornelia Haunschild und sieht mit einem Mal wieder gefasst aus. „Aber ich weiß, dass sie es mitbekommen hat.“ Woher genau, kann sie, jetzt ganz die Anwältin, nicht sagen. Es habe aber mit den Steinen und ihrer Intuition zu tun. Dann schiebt sie noch nach, und zwar so bestimmt, dass es jede weitere Nachfrage obsolet macht: „Ich weiß es einfach.“ 

Die drei existenziellen Fragen des Lebens, nämlich die nach dem Wozu, dem Warum und dem Wohin, kann kein Lexikon beantworten und noch immer kein Labor. Die einen schlafen besser mit einem Kristall unterm Kissen, die anderen mit einem Tesla in der Garage. Gegen das Gefühl von Leere kann man ein iPhone in die Hand nehmen. Oder man nimmt einen Stein und horcht einfach mal da hinein. Evidenzbasierte Daten dazu fehlen. Aber möglicherweise ist es in manchen Momenten gar nicht so schlecht, in der Welt ein bisschen zu viel zu sehen als immer zu wenig.

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