Ein Mann führt mit einer Frau eine einjährige Liebesbeziehung. Sie sehen sich allerdings kein einziges Mal – denn es gibt sie gar nicht
Von Andreas Bock
Am Ende ist Lukas ganz ruhig. Er fragt, ob er noch ein letztes Mal mit Layla sprechen dürfe. Sabine sagt „Okay“ und verstellt ihren Tonfall: „Hier ist Layla!“ Die Stimme klingt samtweich und wunderschön und so vertraut. Kurz steht alles wieder still. Wie beim ersten Mal. Lukas sagt „Es war schön mit dir“, und sie fragt, ob er ihr noch eine Chance gebe. Es sei schließlich alles echt gewesen – alles, bis auf den Namen und die Fotos. Doch da legt Lukas auf.
Das war am 29. November 2013, ein Freitag, der allerletzte Anruf: Layla, 23.03 Uhr. Lukas beendete damals eine Beziehung zu einer Person, die es eigentlich nie gegeben hat. Layla und er hatten sich beinahe ein Jahr lang Nachrichten übers Handy geschrieben und miteinander telefoniert. Sie hatten Sex am Telefon und schliefen miteinander ein. Doch an jenem Novemberabend war es ihm zu viel geworden. Er rief an und sagte, es sei aus, vorbei, endgültig, und da beichtete sie ihm alles. Dass sie, Layla, Sabine war und dass Sabine Layla war – oder es zumindest sein wollte. Lukas hatte eine Frau kennengelernt, die vermutlich unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet. „Ich weiß nicht, was das ist“, sagt Lukas. „Vielleicht war es das. Vielleicht war es auch Stalking. Vielleicht nur ein Spiel.“
Er, 25, Student, Vollbart, verschlafener, gutmütiger Blick, Typ bester Freund in US-Buddy-Serien, sitzt im Juli 2014 in der Berliner Hasenheide, trinkt Mate, raucht Selbstgedrehte, was man in Berlin so macht.
– War es Liebe?
Ja, irgendwie.
– Oder war es etwas, das er sich unter Liebe vorstellt?
Das kann auch sein.
– Hat ihn das Jahr verändert?
Bestimmt.
– Ist er verschlossener geworden?
Vielleicht, ja.
Aber er war ja eh nie der Typ, der auf fremde Menschen zugeht. Er hat seine drei besten Freunde, Linus, Boris und Piotr, dazu ein paar Jungs aus Berlin, eine gute, unaufgeregte Clique. Linus und Piotr, die beiden forschen Jungs, waren immer schon mittendrin, beste Freunde seit seiner Kindheit in Leer bei Aurich bei Oldenburg. Lukas stand immer schon ein bisschen am Rand, Weizenbierglas in der Hand und das gute Gefühl, wenn der DJ mal einen Punkrock-Song auflegt. Er war ein zufriedener Ostfriese, auch nachdem er in die Großstadt gezogen war, eigentlich.
Am Anfang ist da ein Bild in einer Online-Partnerbörse. Lukas und Linus haben sich dort eines Abends angemeldet. „Aus Spaß“, sagt Lukas. „Ein paar Girls angucken.“ Er hat so etwas noch nie gemacht, doch heutzutage machen das ja alle, Online-Dating, Tinder, OkCupid, abchecken, verlieben, zumindest für zwei Sekunden und manchmal sogar für eine Nacht.
Dann ist da Layla. Eine junge zierliche Frau, 23 Jahre alt, lange kastanienbraune Haare, ein bisschen verträumt, ein bisschen keck. Wie die Traumfrau in US-Buddy-Serien, wie seine Lieblingsschauspielerin Alison Brie in der Sitcom „Community“. Lukas schreibt: „Hallo, ich bin Lukas. Ich mag deine Fotos.“ Sie schreibt zurück: „Ich bin Layla. Ich mag deine Augen.“ Und dann chatten sie zwei Tage über das Portal hin und her, bis sie auf SMS und Facebook wechseln. Nach vier Tagen telefonieren sie das erste Mal miteinander.
Lukas lernt in diesen Tagen seine Traumfrau kennen. Sie sei vor einem halben Jahr nach Berlin gezogen, direkt hinein ins wilde Leben, nach Prenzlauer Berg, erzählt sie. Sie ist freie Fotografin und zeichnet. Außerdem studiert sie an der Universität der Künste. An den Nachmittagen fährt sie mit ihren Jungsfreunden Skateboard, am Wochenende geht sie mit ihren Freundinnen manchmal auf Elektro-Partys. Sie mag Horror- und Splatterfilme. Sie ist perfekt. „Wie heißt sie?“, fragt Piotr. „Layla!“ Layla! So heißen Prinzessinnen in Fantasyromanen. So heißt auch die Angebetete in Eric Claptons Song: „Layla, you got me on my knees. Layla, darling, won’t you ease my worried mind?“ Lukas denkt: Was für eine Frau! Layla schreibt: Ich glaube, ich bin verliebt!
Lukas lebt zu diesem Zeitpunkt über fünf Jahre in Berlin. Früher mal, kurz nachdem er mit der Schule fertig war, wollte er von Leer nach Hamburg ziehen, Fotograf werden. Doch dann macht er sein freiwilliges soziales Jahr in Marzahn-Hellersdorf und bleibt. Er zieht nach Kreuzberg, in eine WG mit Linus. Es ist alles wie früher, nur ein bisschen größer und lauter. Er beginnt erst eine Ausbildung in einer Werbeagentur und dann ein Studium an einer Filmschule. Er will Produzent werden. Einer, der Dinge regelt. Der den Überblick behält. Der alles zusammenfügt. „Ich mag organisieren und akquirieren“, sagt er. „Und ich mag telefonieren.“ Die Kunden sagen, er spreche so schön, tief und dunkel, doch klar wie ein Vorleser. Wenn Lukas erzählt, ist es, als höre man einem Klavierstück von Erik Satie zu. Eine Stimme in a-Moll.
Manchmal lernt er abends ein Mädchen kennen, selten nimmt er eine mit nach Hause. Dabei mögen sie ihn. Wenn er dort am Rand steht, kommen sie gelegentlich zu ihm und fragen, warum er nicht tanze. Dann lächelt er und antwortet, das sei nicht seine Musik. Er möge ja Punkrock. Auf seinem rechten Daumengelenk hat er die Buchstaben „PMA“ tätowiert, das heißt: Positive Mental Attitude. Es ist das Credo des Philosophen Napoleon Hill, der dies 1937 in seinem Buch „Think and Grow Rich“ populär machte und das in den späten 70ern von der US-Hardcore-Band Bad Brains adaptiert wurde. Es heißt in dem Buch zum Beispiel, dass man selbst für sein Leben verantwortlich ist, nicht der Staat, nicht die Gesellschaft, nicht das Schicksal. Vor allem nicht das Schicksal. Lukas findet das gut.
Als er es das letzte Mal länger mit einer Frau versucht hatte, lebte er noch in Leer. Auch da war er beim Abschied ganz ruhig. Er stand an der Bar seiner Stammkneipe und bestellte zwei Bier. Als er zum Tisch zurückkam, küsste seine Freundin einen Jungen aus dem Nachbardorf, und Lukas stellte das Bier wieder ab und ging hinaus in die friesische Nacht. Danach hatte er erst einmal genug von den Frauen.
In Berlin ist eh alles viel schneller. Alles verändert sich, dauernd, überall. Wer hat hier Zeit? Es geht um virtuelle Herzen, um einen Daumen, mit dem man auf dem Smartphone Bildchen weiterwischt, um Selektion, um Fastfood-Geilheit, um die neuesten Frisuren, die neuesten Tattoos, die neuesten Open-Air-Raves, die neuesten Projekte, um Kaufen oder Nichtkaufen, weiter, immer weiter, schneller, immer schneller. „Es ist hier wie im Supermarkt“, sagt Lukas. Als er einmal schnell sein wollte, kaufte er sich ein Rennrad und fuhr stundenlang um das Tempelhofer Feld.
Mit Layla ist nun alles anders. Sie ist auch laut und aufgedreht, doch sie hört zu, sie hat Zeit. Wenn ihr etwas auf die Nerven geht, und oft ging ihr etwas auf die Nerven, sagt sie „Boah!“, das findet Lukas niedlich. Wenn es ihr richtig schlecht geht und sie weint, liest er ihr aus dem „Kleinen Prinzen“ vor. Auch sie sagt: „Ich liebe deine Stimme.“ Er sagt: „Ich war wie ein Fels für sie.“ Der Ruhepol in einer Achterbahnfahrt durchs wilde Layla-Berlin.
Nach knapp einem Monat sagt er das erste Mal: „Ich liebe dich!“ Sie nennen sich nun ein Paar und reden beinahe jeden Abend, stundenlang, oft bis zum nächsten Morgen. Sie nennt ihn „Süßi“, er nennt sie „Frau Shrimp“, weil sie ihm geschrieben hat, dass sie eine Wandschläferin sei: „Lieg direkt mit der Nase an der Wand, eingekugelt wie ein Shrimp, und das jeden Abend.“ Einmal prüft er die Verbindungsdetails, 701 Minuten steht da, elf Stunden und 41 Minuten am Stück. Sie hatten den Film „Evil Dead“ zusammen geschaut, bis sie irgendwann eingeschlafen war. Er hatte sich noch gewundert, wie laut so ein kleiner Mensch schnarchen kann.
Fünfmal versuchen sie, sich zu treffen. Wie ein echtes Paar. Beim ersten Mal, eine Woche nach dem ersten Telefonat, ist Lukas ein bisschen aufgeregt. Wird sie ihn auch noch gut finden, wenn er vor ihr steht? Kurz vor dem Date sitzt er mit Linus und Piotr in der WG. Sie hören Musik und trinken Bier, und Linus sagt, das wird schon gut gehen. Als Lukas losgehen will, erreicht ihn eine SMS von Layla: „Bin im Krankenhaus“, steht da. „Ich war so in Eile.“ Sie sei die Treppe hinuntergefallen und habe sich das Steißbein gebrochen. „Boah!“, sagt sie später am Telefon, und Lukas lacht. „Dir geht’s ja schon besser!“, sagt er.
Ein zweites Treffen soll zwei Wochen später stattfinden. Doch auch dieses Mal sagt Layla kurzfristig ab. Ihr Exfreund habe auf einmal vor der Tür gestanden und ihr ein blaues Auge verpasst. „So kann ich dich nicht sehen“, sagt sie unter Tränen. Lukas macht sich ein wenig Sorgen und beruhigt sie. Er sagt, es eile ja nicht. Dann fragt er nach ihrer Adresse, sie verrät ihm die Straße, doch warnt ihn: „Wenn du kommst, mache ich nicht auf.“ Sein Freund Linus macht sich nun auch Sorgen. „Lukas“, sagt er, „lass das mal sein jetzt, die verarscht dich doch! Die gibt’s doch gar nicht!“ Lukas denkt: 2,3 Kilometer! Er könnte sie schreien hören, wenn es nur einmal ganz ruhig wäre in Berlin.
Sie verabreden sich noch einmal. Weil beide Pizza Hawaii lieben, wollen sie bei einem Italiener in der Berliner Bergmannstraße essen. Lukas ist pünktlich, doch er geht nicht hinein. Er hat Sorge, dass ihr wieder was dazwischenkommt und er dann aussieht wie der Tropf, der versetzt worden ist. Also wartet er vor dem Restaurant. Er raucht eine Zigarette. Noch eine. Und noch eine. Drei Stunden wartet er in einem Hauseingang. Es regnet in Strömen. Midnight in Berlin. Er ruft Linus an, der sagt: „Lukas, wenn du nicht gleich nach Hause kommst, verprügele ich dich.“ Er wartet noch eine weitere Stunde und fährt durchnässt heim.
Linus schimpft jetzt lauter, das macht er in letzter Zeit häufiger, und Lukas sagt wieder: „Guck auf das Facebook-Profil! Die Freunde, die Fotos, die Aktivitäten! So etwas kann man nicht fälschen!“ Dann geht er in sein Zimmer und schreibt über Facebook die Cousine von Layla an. Sie heißt Sabine und wohnt noch im heimischen Heinsberg, ein 40.000-Einwohner-Städtchen an der deutsch-holländischen Grenze. Auch Sabine scheint besorgt. Sie verspricht, Layla über ihr Diensthandy anzurufen. Er schickt zeitgleich einen Freund, der auch im Prenzlauer Berg wohnt, zu der Adresse, die Layla ihm kürzlich genannt hat. Der Freund meldet sich eine halbe Stunde später, in der besagten Straße wohne keine Layla.
Irgendwann in der Nacht klingelt doch das Handy. Layla entschuldigt sich. Sie habe ihr Portemonnaie vergessen und sich dann verlaufen. Danach sei sie heimgegangen und eingeschlafen. Sie streiten sich zum ersten Mal richtig. Er will nicht mehr die Abende in seinem Zimmer hocken und telefonieren. Er sagt, er will wieder mehr Fahrrad fahren. Er sagt, er habe jetzt ein paar Filmprojekte vor sich. Er sagt, seine Freunde halten ihn für verrückt und dass er bald keine Freunde mehr habe. Einmal küsst er auf einer Party ein anderes Mädchen. Er fühlt sich schlecht, doch er redet sich ein, dass er niemanden betrogen habe. Nur sein Telefon. Nur diese Stimme. Und die Person? Was ist, wenn es sie wirklich nicht gäbe? Wäre das überhaupt wichtig?
Beim nächsten Telefonat schluchzt Layla: „Ich bin dir wohl egal geworden.“ Und: „Du stehst nicht zu mir!“ Lukas beruhigt sie. Es geht nun doch weiter. „Es war Gewohnheit geworden“, sagt er. „Ich vermisste sie einfach irgendwann.“ Er vermisst das Gefühl, zusammen einzuschlafen. Und er hasst das Gefühl, nicht zu wissen, was sie macht. Er verzehrt sich nach dieser Stimme. Es ist wie eine Sucht. Layla, you got me on my knees.
Seinen Kumpels erklärt er in den kommenden Wochen immer häufiger, es gehe ihm nicht gut, wenn sie ihn fragen, ob er mit auf ein Konzert oder eine Party kommt. Das Handy legt er nun immer so auf den Tisch, dass niemand das Display sehen kann. Doch seine Freunde hören nicht auf zu fragen. Aus einem E-Mail-Verkehr mit Boris:
„Was geht mit deiner Tante Leyla?“
„Alles gut, sie ist im Moment in der Heimat.“
„Nun mal getroffen?“
„Noch nicht!“
„Du verarschst mich! Dein Ernst? Schieß die Alde ab!“
„Nein, werde ich nicht. Ich habe auch keine Lust mehr, mich zu rechtfertigen!“
„Ich sag’s nur, klingt komisch. Nicht dass es am Ende heißt, ich hätte den Mund nicht aufgemacht.“
„Lasst mich einfach machen. So wie es ist, finde ich es auch nicht gut, aber was soll’s. Ich werde nicht rumheulen, wenn es schiefläuft! Ihr wisst nichts über sie!“
Nach ein paar Monaten haben sie das erste Mal Sex. Am Telefon. Sie erzählen sich, wie sie es im Bett am liebsten mögen, und dann kommen sie zusammen. Lukas fragt noch einmal vorsichtig, ob sie nicht wenigstens skypen könnten. Sie sagt, das sei ihr zu kompliziert. Er fragt, für wen sie genau arbeite. Sie sagt, das sei doch nicht wichtig. Und als zwei weitere Treffen nicht zustande kommen – einmal ist sie krank, ein anderes Mal muss sie kurzfristig zu ihrer Tante nach Heinsberg –, findet sich Lukas damit ab, Layla nie zu treffen.
Es beginnt die Zeit, in der Layla immer häufiger von ihrer Cousine erzählt. Sabine hieße sie. Ja, das wisse er, sagt er. Kürzlich hätten sie sich doch über Facebook geschrieben. „Und?“, sagt Layla. „Eine tolle Frau, oder?“ Sabine sei lustig, lebensfroh, manchmal sogar ihr ein wenig zu flippig. Sie gehöre eigentlich auch nach Berlin, in die große Stadt. Sie schreibe ja so tolle Kurzgeschichten. Geschichten darüber, wie es ihr geht. Geschichten vom Erwachsenwerden. Vom Zusammenziehen. Von der ersten Liebe. Von Bindungsängsten. „Mädchen-Geschichten halt, ‚Neon‘-Geschichten“, sagt Lukas. Ein paar Mal liest Layla ihm eine vor. Er sagt, er finde sie gut.
Heute weiß er nicht mehr, warum er gerade an diesem 29. November 2013 die Sache beendet. Er plant es nicht, er denkt nicht lange drüber nach. Er sitzt einfach mit Piotr und Linus in der WG, und das Handy liegt wieder einmal umgedreht vor ihm. Als die Freunde aus dem Haus gehen, ist Lukas alleine und ziemlich betrunken. Er nimmt das Handy und schreibt Layla eine SMS: „Das war’s! Ich kann nicht mehr!“
Ein paar Sekunden später ruft sie an. Sie weint. Sie merkt, dass er es heute ernst meint. Sie sagt: „Ich muss dir etwas beichten.“ Dann spricht da auf einmal diese andere Stimme. Sie ist tiefer, härter, kantiger. Langsam begreift er: Es ist die von Sabine, der Cousine, die so gerne Layla gewesen wäre.
Lukas weiß heute auch nicht, warum er so ruhig geblieben ist. Er sei nicht wütend gewesen, nicht zornig, eher erleichtert. Vielleicht darüber, dass es nun für alles eine Erklärung gibt. In diesem Moment liegt jedenfalls alles ganz deutlich vor ihm, zum ersten Mal: das gefälschte Facebook-Profil, die gefälschte Vita, die gefälschten Bilder, der gefälschte Wohnort. Es ist alles so logisch, es passt alles zusammen, es ist genau, wie Linus und Piotr immer gesagt haben. Und die gefälschten Facebook-Freunde? Nein, die seien tatsächlich echt, sie seien alle eingeweiht gewesen, denn sie hätten von dem Spiel und ihrem Problem gewusst. So nennt Layla oder Sabine oder die Frau, von der Lukas nicht weiß, wer sie ist, das Ganze am Ende: ein „Spiel“ und ihr „Problem“.
In diesem Spiel hatte sie eine Welt erschaffen, in der Mädchen Skateboard fahren, aber aussehen wie französische Mannequins. In der sie ähnlich heißen wie Heldinnen aus „Star Wars“, aber trotzdem auf die Hilfe des noch stärkeren männlichen Helden angewiesen sind. Eine Welt, von der diese Frau glaubte, dass Männer sie attraktiv finden würden. Eine Layla-Welt.
Das letzte Telefonat dauert nicht lange. Nach wenigen Minuten legt Lukas auf. Er geht zu Linus und weint bitterlich. Dann versucht er, das erste Mal seit Monaten, die Geschichte zu erzählen.
Das Layla-Profil gibt es bei Facebook nicht mehr. Auf dem Sabine-Profil lächelt verstohlen eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren: Sabine Volkmann aus Heinsberg. Ein Durchschnittsname, ein Durchschnittsstädtchen, ein Durchschnittsgesicht. Auf einem anderen Bild ist Mary Poppins zu sehen. Dieses Kindermädchen mit den Superkräften, das allen Menschen hilft. Auf einem älteren Profilbild steht der Satz: „Who do you think you are, Jerk?“
Neulich hat Lukas den Film „Her“ mit Joaquín Phoenix gesehen. Da verliebt sich der Protagonist, Theodore Twombly, in eine Stimme: die künstliche Samantha. Diese gibt zu, sich realen Frauen in Los Angeles unterlegen zu fühlen, und auch sie versucht, über eine andere Person Theodore für sich zu gewinnen. Sie ist ebenfalls nah und vertraut und gleichzeitig so unendlich weit weg. Am Ende findet Theodore heraus, dass Samantha mit 8316 Menschen und Computer-Betriebssystemen in Kontakt steht und in 641 inzwischen verliebt ist. „Es war gespenstisch“, sagt Lukas. 8316! Sabine hatte ihm zumindest von einem weiteren Mann erzählt, mit dem sie ihr Spiel gespielt hatte.
Seit November 2013 hat Lukas keine Frau mehr über das Internet getroffen. Es gibt da ein Mädchen, das er aus seiner Heimat kennt und das jetzt in Süddeutschland lebt. Manchmal klickt er auch noch auf das Facebook-Profil von Sabine. „Nur so halt“, sagt er. Vielleicht, weil er überprüfen muss, ob diese Person wirklich existiert. Vielleicht, weil er Layla manchmal vermisst.
(Die Namen Lukas und Sabine sind geändert.)