Gute Reise

Soll noch mal einer sagen, dass im Leben der Hochbetagten nichts mehr passiert. Unser Reporter ist in den Alterssimulationsanzug geschlüpft und hat einen wilden Tag im Körper eines Greises verbracht

Von Fabian Dietrich

Als ich eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich in meinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Ich schlug die Augen auf und sah in einen eiterfarbenen Tunnel, meine Ohren wurden von gelben Kopfhörern zusammengepresst, und überall am Körper hatte man mir Gewichte angeschnallt. 
Nur mit Mühe gelang es mir aufzustehen, denn meine Beine gehorchten mir nicht mehr wie zuvor. Schwankend schlüpfte ich in meine Pantoffeln und tastete mich vor zum Bad. Ich blickte in den Spiegel und erschrak, dort starrten mich die Augen eines übergroßen Insekts an. Die Taucherbrille auf meiner Nase war monströs, die Nackenbinde schimmerte in unheimlichen Farben, meine Finger steckten in weißen Handschuhen wie bei Mickymaus. Ich konnte mich kaum bewegen, ich sah und hörte schlecht. Der geheimnisvolle Anzug, ein bewährtes Simulationsinstrument für Alterungsprozesse, das ich mir vor ein paar Tagen für 400 Euro Mietgebühr aus Bayern bestellt hatte, funktionierte offenbar. Die Veränderung war erschütternd. Ich war ein Greis. 
Ich brauchte wohl eine gute halbe Stunde, um mich zu rasieren, denn meine Finger waren steif und gefühllos geworden, und ich sah nie wirklich, wo meine Hand gerade war. Ich hatte mich womöglich geschnitten. Womöglich aber auch nicht. Selbst im besten Licht ließen sich solche Details nur noch erahnen. 
Zum Frühstück, dessen Zubereitung mir einige lästige Probleme bereitete, hörte ich das neue Album von James Blake. Das heißt: Ich versuchte, es zu hören, denn es klang kaum noch wie Musik, sondern eher wie das rhythmische Rülpsen einer Maus. Ich probierte ein paar andere Interpreten aus und landete bei Udo Jürgens, der von meinen Spezialkopfhörern kaum gefiltert zu werden schien. Dann trieb mich Richard Wagner mit Donnerhall und Fanfarenklang voran, und ich spürte eine tiefe, mystisch in mir aufwallende Morgenenergie. 
Ich verspeiste mein Rührei, trank meinen Kaffe und schnappte mir beschwingt einen am Vortag gekauften Blumenstrauß. Unglücklicherweise verließ ich die Wohnung etwas übereilt und in zu großer Vorfreude auf meinen Tag als alter Mann, so dass ich beinahe gestürzt wäre, was ein schlimmes Ende hätte nehmen können. Die Stufen im Treppenhaus waren nämlich zu gefährlichen Klüften geworden, die Gewichte an meinem Körper zerrten mich nach unten und brachten mich aus der Bahn. Mit der Sorgfalt eines Alpinisten stieg ich ab und kämpfte mich Schritt für Schritt voran. Als ich nach einer gefühlten Viertelstunde die Wohnung von Frau L. erreicht hatte, die im Stockwerk unter mir lebt, zitterte ich vor Erregung und Anstrengung. 
Ich klingelte und hielt meinen Blumenstrauß wie einen Schutzschild in Richtung Tür. Ich hatte Angst, der seltsame Anzug könnte sie erschrecken, aber Frau L. war wie immer. Sie gurrte: „Herr Dietrich! Das wäre doch nicht nötig gewesen! Die teuren Blumen! Schonen Sie doch Ihren Geldbeutel! Kommen Sie in die Stube, kommen Sie rein!“ 
Frau L. war 93 Jahre alt und seit drei Jahren meine Nachbarin. Sie hatte unser Haus nie wirklich verlassen. 1920 brachten ihre Eltern sie im dritten Stock rechts zur Welt, irgendwann zog sie mit ihrem Mann in den zweiten Stock links. Der Mann starb. Sie blieb. Niemand hatte so viele Menschen kommen und gehen sehen wie sie. Ich betrat einen langen, düsteren Korridor, an dessen Ende wie ein versteinertes Spinnentier ihr Rollator stand und Wache hielt. 
Hinter mir murmelte Frau L. etwas, das wie „holen die Kelten“ klang. 
„Kelten?“, fragte ich. 
„’ne Keltes.“ 
„Ich höre schlecht, Sie müssen lauter …“ 
„Herr Dietrich, Sie hören ja gar nichts!“ 
„Ja, Sie doch auch nicht, oder?“ 
„OB SIE EIN SELTERS MÖCHTEN?“ 
„GERN.“ 
In ihrem Wohnzimmer ließ ich mich in einen mit einem gräulich lilafarbenen Pflanzenmuster bedruckten Sessel fallen. Der Stoff war angenehm weich und warm und fühlte sich wie Treibsand an, ich versank mit meinem gesamten Unterkörper und all den an mir angebrachten Gewichten darin. Über den Wohnzimmertisch hatte Frau L. ein Ölbild gehängt, das ein glückliches Tal zeigte, hinter dem ein schneebedeckter Berggipfel den Himmel streift. 
Als wir da so saßen, begann sie zu berichten, wie es zurzeit um ihren Körper stand. „Es wird immer schlimmer“, erklärte sie. Am rechten Oberarm zeigte sie mir eine lange Narbe von einer Operation, die Hüfte hatte sie sich zweifach bei einem Sturz gebrochen, und auch der Zeh machte momentan Probleme. 
„Es hilft ja nichts“, sagte sie immer wieder. „Das ist nun so.“ 
Wir plauderten über steigende Mieten, Baulärm und ihr Lieblingsthema, den Schmutz im Treppenhaus, der durch die Ritzen in jede unserer Wohnungen kroch. Schnell wurde klar, dass Frau L. seit Wochen, vielleicht sogar Monaten nicht mehr außerhalb ihrer Wohnung gewesen war. Sie hatte offenbar auch keine Lust mehr, das in nächster Zeit zu ändern. So wie sie das sah, war es einfach nur anstrengend und gefährlich da draußen, man stürzte ständig und brach sich irgendwas, und dann lag man wieder für vier Monate im Krankenhaus. Außerdem gab es ja „meine Dagmar“, eine Dame, die ihr beim Erledigen des Haushalts half. Ich trank hastig von meinem Wasser, hörte ihr zu und bemühte mich, das Gespräch sanft auf einige Punkte in der Vergangenheit zu lenken, auf die ich besonders neugierig war. Doch wie schon bei vorherigen Besuchen scheiterte ich trotz meiner Verwandlung auch diesmal bei dem Versuch, etwas über die heiklen Themen zu erfahren. Mich interessierten zum Beispiel deportierte jüdische Nachbarn, der Bund Deutscher Mädels, Bombenangriffe, ihre Rolle im Nationalsozialismus im Allgemeinen und das Verhältnis zu Adolf Hitler im Speziellen. Doch dann sprach Frau L. plötzlich über ihren Sohn, der offenbar unter unguten Umständen viel zu früh gestorben war, und es trieb ihr – soweit ich das hinter meinen Spezialbrillengläsern erkennen konnte – Tränen in die Augen. „Das ist schlimm“, sagte ich unbeholfen. „Schrecklich ist das.“ „Ich kann nicht mehr von früher reden, immer wenn ich dran denke, kommt alles wieder hoch. Mir platzt gleich der Kopf“, jammerte sie. Da verließ mich der Mut, denn welches Recht hatte ich schon, eine alte Frau zum Weinen zu bringen, und so gab ich den Fragenkomplex „Dunkle Vergangenheit der Deutschen“ ein weiteres Mal auf. Ich sah die Zeitzeugin, die da merkwürdig schräg im anderen Sessel saß, genau an, ihre langen weißen Haare, ihre Backen, ihre Lippen, ihre Haut, die ehemalige Hertie-Verkäuferin, deren Hertie es schon lange nicht mehr gab, und ich war mir auf einmal sicher, dass sie einmal eine Schönheit gewesen war. Frau L. verbrachte den Großteil des Tages nun vor dem Fernseher, einem modernen, flachen Gerät mit gewaltiger Spannbreite, das wie ein Altar in der Mitte des Raumes stand. Vor sich hatte sie eine Programmzeitschrift ausgebreitet und las mir daraus vor. „‚Rote Rosen‘ schaue ich nicht. Aber ‚Sturm der Liebe‘ schon. Das läuft um 15 Uhr. Gucken Sie mal, heute, ‚Sturm der Liebe‘, Folge 1.760. Es ist ein Wahnsinn, Herr Dietrich. Wahnsinn.“ Frau L. hatte jede einzelne der letzten 1.759 Folgen von „Sturm der Liebe“ gesehen. Ich versuchte, das im Kopf zusammenzurechnen, und kam auf 120 Tage verlorene Lebenszeit. 
Sie ließ mich dann auch mal ihren Rollator ausprobieren. Er hatte an jedem der beiden Lenker eine Bremse und dazwischen einen Korb, in dem Frau L. das Essen abstellte, Fischstäbchen mit Salat oder saure Klopse, die von der Küche ins Wohnzimmer zu transportieren waren. Ich fuhr damit ein bisschen durch den mit Linoleum ausgelegten Gang und wurde sofort ein großer Fan dieses praktischen und formschönen Apparats. 
Bevor ich ging, bedankte ich mich überschwänglich für die Expertise und erkundigte mich noch einmal, ob sie auch alles so zerkratzt und wie in Eiter getaucht sah wie ich in der Simulation. 
„Gelb?“, sagte sie. „Nee, Herr Dietrich. Ich hab ’ne starke Brille, meine Dagmar hat sie mir besorgt. Die setze ich zum Fernsehen auf. Mit der Brille sehe ich alles ganz normal.“ 
Nachdem ich die Wohnung verlassen hatte und die restlichen Treppenstufen hinabzuklettern begann, beobachtete sie mich von oben und rief mir besorgt hinterher: „Passen Sie nur gut auf, Herr Dietrich, fallen Sie bloß nicht hin!“ 
Unten auf der Straße war es tatsächlich ein bisschen gefährlich, aber irgendwie auch toll. Der Lärm der Autos war stumm geschaltet, ich bewegte mich verzögert und ungelenk wie ein Astronaut auf dem Mond. Die Stadt war in meinem Greisenblick wie mit Honig überzogen und wunderschön. Nur die Kinder machten mich Verrückt. Sie flitzten wie unkontrollierbare Geschosse über die Gehwege, rammten, da, wo mein Sichtfeld nicht mehr hinreichte, meine Oberschenkel und wurden immer wieder, ohne Entschuldigung, von grimmigen Müttern weggezerrt. Auch die Fahrradfahrer nervten sehr, und die Rote-Ampel-Überquerer waren ein Skandal. Da draußen wurde jeder, der sich nicht an einfache, klar berechenbare Regeln hielt, mein Feind. 
Ein mindestens ebenso großes Problem wie die Kinder war jedoch die Hitze, die Sonne schien, und ich schwitzte unangenehm in meinem schwarzen Overall. Als ich das Café des Bethesda-Altersheims betrat, war meine Spezialbrille bereits mit Wasser gefüllt und so beschlagen, dass ich nur noch einen farbig strudelnden Nebel sah, aus dem allerdings die freundlichsten Worte kamen, die man sich vorstellen kann. Von überall her hörte ich „bitte“ und „danke“ und dann wieder „hach, wie nett!“ und „danke schön!“. An den Tischen saßen wohl einzelne Alte, zumindest die Konturen deuteten darauf hin, ich winkte einmal, aber ob man mir zurückwinkte, sah ich nicht. Drinnen roch es nach etwas Rosenkohlartigem, ich tapste vorsichtig bis zur Theke und erfragte die Speisekarte, doch es gab heute keinen Rosenkohl, es war Freitag, und das bedeutete Fisch. 
Beim Essen, das wohl aufgrund meiner Verwandlung, die langsam auch die Nerven anzugreifen begann, gleichförmig mehlig schmeckte, musste ich wieder an die vielen Besuche im schwäbischen Altersheim meiner Großeltern denken. Beim ersten Mal war ich 16 oder 17 Jahre alt gewesen und hatte zur Begrüßung in einen Rosenstrauch neben dem Eingangsportal gekotzt. Ich hatte in der Nacht zuvor getrunken und schlief meinen Kater dann in einem Seniorenbett aus, das mir bis heute als das bequemste Bett, in dem ich je gelegen habe, in Erinnerung ist. Der Großvater, ein vergeistigter und kulturell sehr beschlagener Mann, den wir Enkel selten ohne Hemd, Sakko und Krawatte zu sehen bekamen, schlief neben mir. Er blieb bis zuletzt ein Grandseigneur. 

Nach dem Mittagessen im Seniorencafé schleppte ich meinen müden, maladen Körper in den Park und zog mich zum Zeitunglesen auf eine Bank im Schatten eines Kastanienbaums zurück. Ich hatte mir heute keine „Süddeutsche“ gekauft, wie ich es sonst an Freitagen zu tun pflege, sondern das Berliner Revolverblatt „B.Z.“. Angeödet von der Schlagzeile der „Süddeutschen“, „Handelsketten reagieren auf Katastrophe“, und der viel zu kleinen Schrift hatte ich also zur „B.Z.“ gegriffen, auf deren Titelbild der „Schreipapagei von Tempelhof“ abgebildet war, ein frecher, bunter Vogel, der seit vier Tagen in einem Berliner Baum saß und Leuten unsinnige Wörter zurief. 
Im Park las ich die Geschichte vom lustigen Schreipapagei mehrmals, und, ich schwöre, sie war wirklich drollig und kurios, und richtig gut geschrieben war sie auch. Den Fernsehtipp des Tages strich ich mir sogleich an. Er lief um 20.15 Uhr im dritten Programm und wurde mit folgenden Worten beworben: „Ein Wochenende mit Semino Rossi. Madeleine Wehle begleitet den gebürtigen Argentinier Semino Rossi zwei Tage lang durch Hamburg und Köln. Er erinnert sich an seine Herkunft. Porträt.“ 
Ein paar Seiten weiter entdeckte ich schlüpfrige Annoncen, ich konnte sie kaum entziffern, doch sie schienen mir ebenfalls ziemlich interessant. 
– Reife Weiber, gierig und geil, sind für fast jeden Spaß 
zu haben: 62 90 09 50 
– Prostatamass. auf Gyn.-Stuhl: 45 30 73 87 
– „Franz-Tag“: nur heute 50 Prozent. Ringstraße 78. Blume. 
Tel. 76 76 64 75 
– Rassige Black Maria. Zungen-Po-Mass. 772 80 18 
– ***Mollige Türkin*** sehr lieb, 28 J., XL-BH. 0152-648 83 31

Ich grübelte darüber nach, was ich wohl jetzt im Alterssimulationsanzug mit einer molligen, lieben Türkin anfangen würde, und ich glaubte zu meinen, dass ich wahrscheinlich keiner von diesen lüsternen Greisen war, sondern eher einer der genügsamen und ermatteten Art. Ich konnte mir die Türkin am besten in der Funktion einer Dagmar vorstellen. Sie sollte einkaufen und putzen und Blumen besorgen und mir meinetwegen die Haare schneiden und mich rasieren und lieb sein, aber darüber hinaus wünschte ich keinen Kontakt. 
Als ich auf der Bank saß und über Dagmar und die Türkin sinnierte, fiel mir wieder diese eine Stelle am Anfang von Platons faschistischer Traumvision „Der Staat“ ein, die ja von den meisten Lesern als belanglos und wirr abgetan wurde, mir aber im Grunde immer schon besser gefallen hatte als der gesamte Rest des blöden Buchs. Die Geschichte mit Platon ging nämlich so: Eine Gruppe griechischer Philosophen und Dichter streitet sich darüber, ob es wirklich so schlimm ist, alt zu werden, oder nicht. Da stimmt einer von ihnen plötzlich ein Loblied auf die Impotenz an. „Wie sieht’s bei dir aus, Sophokles, mit der Liebe? Kannst du noch mit einer Frau verkehren?“, fragt der eine. Und der andere antwortet: „Still doch, Mensch. Ich bin doch so froh, dass ich davon erlöst bin, wie ein Sklave, der von einem tobsüchtigen und wilden Herrn erlöst worden ist! Gut gefiel’s mir damals und heute nicht minder. Denn immerhin hat man im Greisenalter in diesen Beziehungen vollkommenen Frieden und Freiheit.“ 
Nachdenklich kramte ich das trockene Brot aus meinem Rucksack und warf einige Krumen vor mir, soweit es meine altersschwachen Muskeln zuließen, in den Staub. Ich hörte die Vögel singen, ich sah ihre Schatten vorbeihuschen, aber sooft ich es auch versuchte, die kleinen Biester kamen nicht. Das Vögelfüttern, so stellte ich fest, sah für Außenstehende zwar wie die pure Definition von Deppenarbeit aus, war in Wahrheit jedoch ein komplexer Vorgang, der genau wie das Angeln oder Jagen nur mit einiger Übung und Erfahrung zu bewältigen war. Es kam auf Schnelligkeit, Ausdauer, Geschick und den richtigen Köder an. In meinem eingeengten Sichtfeld war es durchaus eine Zeitlang spannend zu beobachten, in etwa so, als befände ich mich in einem sehr realistischen Computerspiel. Manchmal schien es mir jedoch, als wüssten die Vögel über alles Bescheid und lachten mich hinter meinem Rücken aus. 
Das Warten wurde mir dann allmählich doch zu fad, und so griff ich zu meiner Flasche Klosterfrau Melissengeist und stürzte ein erstes Gläschen hinunter. Ich erinnerte mich, dass meine Hamburger Großmutter eine Zeitlang eine große Anhängerin dieses Getränks gewesen war. Manchmal rief sie an, und wir Kinder verstanden kein Wort mehr, weil sie lallte und am Telefon klingonisch sprach. Sie trinke ja nicht, versicherte sie meinem Vater immer. Sie nehme ja nur ihre Medizin. 
Nach einem kurzen Würgereiz explodierten die 79 Prozent Alkohol in meinem Magen und breiteten sich wie ein feuriger Kugelblitz in alle Extremitäten aus. Eine seltsame Kraft und Ruhe überkam mich, die Nervosität verflog. Alter hin oder her, dachte ich, carpe diem, erfreue dich am Augenblick! Es war ein wunderbarer Frühsommertag, das Licht brach sich zauberhaft in den Wipfeln der Kastanien, ich hätte tagelang hier sitzen bleiben und dem Wind in den wiegenden Bäumen zuschauen können. Ich hob den Kopf und lächelte selig in den Himmel, als ich eine spektakuläre Wolke in der Form Ostpreußens über die Dächer der Häuser ziehen sah. Im nächsten Moment zerstäubte sie, verschmolz mit einem dicken Fladen und löste sich schließlich gänzlich in der blauen Unendlichkeit auf. 
Es muss wohl die Zeit des Schulschlusses gewesen sein, denn als ich meinen Kopf wieder senkte, bevölkerten finster dreinblickende Jugendliche meinen Park. Sie strichen in kleinen Gruppen mit schleppendem Gang an meiner Bank vorüber, surften auf ihren blitzenden Telefonen im Internet, wischten und drückten wütend auf irgendwelche Tasten und waren ganz offensichtlich auf der Suche nach Streit. 
Ich ergriff die Flucht, erhob mich ächzend, sah aus dem Augenwinkel gerade noch einen Spatz, der hämisch über mein Brot herfiel, und trottete davon. Ich wollte ein wenig bummeln und beschloss dann, einer spontanen Eingebung folgend, Kurs auf eine Kneipe zu nehmen und mir dort einen Erfrischungstrunk zu gönnen. Im „Schlawinchen“ bestellte ich einen gekühlten Eierlikör, aber die Kellnerin, ein junges Ding von 30 Jahren, fand die Flasche nicht, und so landete ich doch wieder beim Bier. Ich saß draußen neben einem 50-jährigen Rotweintrinker, der sich als Heinz vorstellte. Er sagte, er kenne den Alterssimulationsanzug aus dem Fernsehen. Pro Sieben, „Galileo“, irgend so was in der Art. „Du hörst nichts, was? Ist gut, dann kriegste das ganze dumme Gelaber nicht mehr mit.“ 
Ich bejahte, wir prosteten uns zu und tranken unsere Getränke nebeneinander im Sonnenschein, während Passanten ihre Einkäufe nach Hause schleppten und das Leben der anderen einfach so weiterging. Plötzlich verkündete Heinz wie aus dem Nichts: „Ich rauche jetzt eine Haschzigarette!“ „Nein! Eine Haschzigarette? Aber das ist doch verboten!“, stammelte ich. In der Kneipe hing ein großes Schild, auf dem stand, jeder Drogenkonsument werde unverzüglich bei der Polizei angezeigt. 
„Man darf sich nur nicht erwischen lassen“, flüsterte Heinz und zwinkerte mir zu. Er drehte sich also diese Haschzigarette und murmelte etwas, das wie „kommt Zeit, kommt Alter“ klang. Ich verstand nicht genau, wie dieser Spruch zu deuten war, aber alle lachten herzlich darüber, und so lachte ich mit. Als die Haschzigarette glühend zwischen seinen Lippen hing und er ein paarmal gierig daran gesaugt hatte, rief er: „Guck mal, ’ne Libelle!“ Und ich drehte meinen Kopf – so weit es ging – nach links, aber da war ein gelber, verkratzter Sichtkanal, und in dem Sichtkanal war eine gelbe, verkratzte Straße und gelbe, verkratzte Autos und ein gelbes, verkratztes Baugerüst. Mich beschlich das Gefühl, reingelegt worden zu sein. Ich erhob mich, das Bier war geleert. Heinz zog mich zu sich und drückte mir als Abschiedsgeschenk den Rest seiner Haschzigarette in die Hand. Es wird mir guttun, redete ich mir ein. Es wird meinen Kreislauf anregen und mich in Schwung bringen. Und tatsächlich fühlte ich mich plötzlich leichter als zuvor. Mir war aber auch ein wenig schwindlig, wie ich so schmauchend durch die Straße ging. Als ich aber an den Treppenstufen meines Hauses angelangt war, verpuffte die Wirkung sofort. Die verfluchte Schwerkraft schlug wieder zu. Der Aufstieg in den dritten Stock glich einer von heftigen Stürmen durchgerüttelten Gletscherexpedition. Ich musste mich mit beiden Armen hinaufziehen und mehrfach Rast in den Zwischengeschossen machen. Es war eine Qual. 
Zu Hause warf ich mich auf mein geliebtes Sofa und schaltete das Fernsehen an. Es lief Frau L.s Lieblingssendung, die 1.760. Folge von „Sturm der Liebe“ in der ARD. Die Serie handelte von einem Hotel in einem fiktiven Alpendorf namens Bichelheim. Die Schauspieler deklamierten ihre Sätze, in denen immer irgendein sexueller Unterton mitzuschwingen schien, hölzern und lieblos. Sie waren ohne jedes Talent. Mir schien sogar, sie ekelten sich ein bisschen vor sich selbst. Um die Handlung war es nicht besser bestellt. Es war das vollständige Chaos auf dem Fürstenhof in Bichelheim. Jedes emotionale Problem, das gelöst wurde, brach an einer anderen Stelle genauso heftig wieder auf, so dass am Ende das Stresslevel immer auf einem konstant hohen Niveau bleiben konnte. Jeder wollte jeden heiraten, jeder scheiterte irgendwie. Als der Priester einer jungen Frau erklärte, er wolle zwar, aber er könne sie nicht heiraten, weil er quasi mit Gott verheiratet sei, döste ich weg und versank in einen herrlich tiefen Mittagsschlaf. 

Ich erwachte gegen Abend mit leichten Kopfschmerzen und stechendem Harndrang. Meine Muskeln spannten von den Gewichten, die Taucherbrille schnitt mir tief ins Backenfleisch. Ich kroch vom Sofa, spritzte mir kühlendes Wasser ins Gesicht und ging, obwohl ich dazu absolut keine Lust mehr verspürte, dann doch noch einmal hinaus. 
Die Kirchturmglocke schlug sechs, als ich den Friedhof erreichte. Ich schlurfte über die feuchten Gehwegplatten und betrat eine Landschaft, die einem gezähmten Dschungel glich. Überall spross und rankte es, mannshoher Rhododendron versperrte mir die Sicht. Ich durchschritt ein Feld mit langen Reihen schlichter, ins Gras eingelegter Grabplatten. 

Fritz Lau † 27.4.1945 
Bernd Lewald † Mai 1945 
Otto Wittke † 15.4.1945 
Paul Kordt † 11.5.1945 

Ich passierte die Steine von Martha Reetz und Gustav und Luise Schaumkessel, als ein Regenschauer niederprasselte und ich nicht schnell genug in Deckung kam. Der Alterssimulator hatte sich nun mit Wasser vollgesogen und lastete doppelt schwer auf mir. Ich fühlte mich wie Atlas, der die Welt zu tragen hat, und schleppte mich weiter, bis ich eine Bank am Rande des Kriegsgräberfeldes entdeckte, wo ich unter einem Ahornbaum zum Sitzen kam. Ich stützte meine Ellbogen auf die Oberschenkel und legte meinen Kopf in die Hände. Grübelnd sah ich nach oben, wo die Wolken nicht mehr lieblich, zart und ostpreußisch vorüberschwebten, sondern als schimmlig grauer Vorhang über der Sonne lagen. Eine Amsel sprang über die vor Feuchtigkeit dampfende Gräberwiese, aus der Ferne wehte das Jaulen eines benachbarten Jahrmarktes zu mir. Vergnügt euch nur, ihr jungen Leute, sagte ich mir zerknirscht. Vergnügt euch, aber bald schon seid ihr selber alt. Ich dachte an Luise Schaumkessel, Otto Wittke und Fritz Lau. Wer sind sie gewesen? Wo waren sie jetzt? Mir fiel auf, dass Frau L. das Wort „Tod“ nie ausgesprochen hatte, als wäre das alles nur ein Film oder ein Roman, nannte sie es einfach nur „das Ende“ oder „den Schluss“. Eine vollkommene, schmerzhafte Einsamkeit erfasste mich auf dieser Friedhofsbank. Ich saß noch ein Weilchen da, hörte die Vögel in den Baumwipfeln tschilpen und spürte die Erde sich rasant unter meinen schweren Füßen drehen, während mein Körper zunehmend in sich zusammensackte und zu schmerzen begann. In meiner Verzweiflung zerrte ich erneut den Klosterfrau Melissengeist aus meinem Rucksack und genehmigte mir einen tiefen Schluck. Aber der Melissengeist war anders als vorhin im Park, nicht belebend, sondern niederschmetternd. Böse, faulig, tot. Ich zuckte zusammen, als ich hinter mir Schritte vernahm. Hastig drehte ich mich um. Aber es war niemand zu sehen. Auf einmal überkam mich der Gedanke, ich könnte an diesem Ort überfallen werden. Immerhin war ich das perfekte Opfer. Schutzlos, betrunken und allein. 

Mit Müh und Not gelangte ich ohne Sturz in meine Wohnung zurück, die mir nun immer mehr als Festung und als einziger Ort des Glücks erschien. Frau L. hatte recht gehabt, es lohnte sich nicht mehr, da rauszugehen. Die Stadt Berlin war unerträglich. Zu anstrengend, zu gefährlich, zu kaputt. Auf meinem Wohnzimmertisch lagen: das Erste-Weltkriegs-Tagebuch von Ernst Jünger; eine Novelle von Kafka; der in Plastikfolie eingeschweißte Lidl-Prospekt. Ich hatte keine Kraft mehr zu lesen, es war sinnlos, alles überforderte mich. 
Um Viertel nach acht machte ich es mir gemütlich, schaltete das dritte Programm ein und sah dem jungen Argentinier Semino Rossi zu. Er war ein Schlitzohr, ein Hallodri, ein Lügner vielleicht. Aber irgendwie schien er tief im Herzen auch ein guter Kerl zu sein. Rossi, der furchtbare Segelohren hatte und ein miserables Deutsch sprach, stand gemeinsam mit einer jungen Moderatorin vor der Kulisse des Hamburger Hafens und berichtete von seiner Zeit als Rettungsschwimmer in Argentinien. Es wurden Archivaufnahmen vergangener Schlagerparaden eingespielt. Seine Mutter erschien als Überraschungsgast in einer Fernsehsendung, und der überraschte Semino Rossi brach daraufhin auf der Bühne in Tränen aus. Dann sah ich ihn in meinem gelben, verkratzten Tunnel an einem Brunnen stehen, hinter ihm trippelten im Stile des 19. Jahrhunderts verkleidete Paare an einem Fachwerkhaus vorbei, und er sang das Lied über das „Tor zur Liebe“, das natürlich schrecklich war, aber in seiner Schlichtheit auch ein bisschen schön. Wegdämmern, dachte ich mir. Einfach wegdämmern. Und so kam es dann auch.

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