Paradise Lost

Erst war die Vogelkacke Naurus Glück, nun ist sie ihr Untergang. Die Geschichte einer Landabnahme

Von Oliver Gehrs

Wann geht ein Land unter? 
Wenn jeder dritte seiner Einwohner an Fettleibigkeit und Diabetes leidet? 
Wenn es von den USA auf die Liste der Schurkenstaaten gesetzt wird? 
Wenn andere Länder überlegen, ihren Atommüll dort zu vergraben? 
Wenn es fast vollständig von Vogelkacke bedeckt wird? 
Oder wenn es wegen der Klimaerwärmung in wenigen Jahren im Pazifik zu versinken droht?

Es gibt wenige schaurige Szenarien, die nicht irgendwann mal auf den Inselstaat Nauru zugetroffen haben. Dabei war es einst ein Ort, so schön und friedlich, dass ihn frühe Besucher wie die englischen Walfänger, die 1798 an seinen Gestaden strandeten, als „pleasant island“ bezeichneten; als freundliche Insel also, deren Bewohner zutraulich winkend auf die Männer zupaddelten, die den weiten Weg von Europa gekommen waren. Natürlich nicht, um höfliche Urvölker zu treffen, sondern zum Fischen und auf der Suche nach Bodenschätzen und Rohstoffen. Dass sie ausgerechnet auf Nauru fündig wurden, bestimmt das Schicksal der Insel bis heute. 
Das Land liegt zwischen den pazifischen Inselstaaten Mikronesien und Kiribati: ein Klecks im Meer, nicht größer als ein Drittel von Manhattan. Wenn man mit dem Fahrrad einmal um die Insel fährt, dauert es keine zwei Stunden. Über Jahrhunderte muss dieses Land den Zugvögeln auf ihrer Reise als Zwischenstation gedient haben, jedenfalls bedeckten sie es derartig großzügig mit Vogelscheiße, dass sich daraus in Verbindung mit dem Kalk der weit verbreiteten Korallen eines der größten Phosphatvorkommen der Erde bildete. Entdeckt wurde der Schatz Ende des 19. Jahrhunderts im Büro eines australischen Ingenieurs, der sich als Andenken einen schönen großen Stein aus Nauru mitgebracht hatte, um ihn als Türstopper zu verwenden. Als ihn sich ein Besucher näher anschaute, entpuppte sich dieser als ein Klumpen reinsten Phosphats. 

Phosphat ist der Hauptgrundstoff für Düngemittel und die konnte man weltweit, aber wegen des unfruchtbaren Bodens in Australien besonders gut gebrauchen. So kam es, dass das einstmals unbedeutende Pazifikland, dessen Männer nach Perlen tauchten und dessen Frauen den gefangenen Fisch wie Schmuck um den Hals trugen, plötzlich zum Spielball viel größerer Mächte wurde. 
Erstaunlicherweise war Naurus erste Kolonialmacht Deutschland, das die Insel zu seinem Protektorat erklärte, nachdem es sich mit dem damalige Bündnispartner England den Südpazifik mehr oder weniger aufgeteilt hatte. Als der Phosphatabbau 1907 begann, verpachtete Deutschland das Land an die australische Pacific Phosphat Company und strich dafür reichlich Dividenden ein. Die Einwohner bekamen vom plötzlichen Reichtum so gut wie nichts ab. Die New York Times bezifferte den Schatz in Naurus Boden damals auf fantastische 500.000 Millionen Tonnen, die noch wertvoller wurden, als der Erste Weltkrieg entbrannte, weil man Phosphat nun nicht nur für Dünger, sondern auch für Waffen benötigte. 
Es war der Beginn eines in der Weltgeschichte einzigartigen Raubbaus an einem Land, initiiert durch Eindringlinge, in seiner Unumkehrbarkeit aber von den eigenen Bewohnern vollendet. 
Die Nauruer beuteten ihren eigenen Boden aus, um den anderer Länder fruchtbar zu machen. So sehr, dass Naurus gegenwärtiger Präsident Marcus Stephen noch im Juni dieses Jahres in der New York Times schrieb: Wenn die Welt ein Beispiel für ihren Untergang suche, der das Resultat bedenkenloser Gier sei, dann solle sie auf Nauru schauen. 
Aber am Anfang war das Phosphat natürlich das reine Glück: das weiße Gold, der Treibstoff zu unermesslichen Reichtum. Der Grund, warum Nauru in den achtziger Jahren gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner das reichste Land der Erde waren, dessen knapp 10.000 Einwohner im Durchschnitt drei Autos besaßen, obwohl es auf der ganzen Insel gerade mal 40 Kilometer asphaltierte Straßen gibt. 
Heute fahren auf Nauru nur noch wenig Autos. Neben den stillgelegten Tankstellen fallen einem vor allem die unendlich vielen weißen Säulen auf – Stalagmiten, die bis zu zehn Meter hoch aus dem Boden wachsen. Wie ein riesiges Mahnmal erstrecken sie sich über das Land. Es sind Überbleibsel des Phosphatabbaus, genau wie die großen Verladestationen am Strand. Kräne, die in den Himmel ragen, der auf Nauru fast immer blau ist.

An der Zerstörung der Insel waren viele Mächte beteiligt: Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg war für die Deutschen das Geschäft vorbei. Der Versailler Vertrag besiegelte das Ende ihres Kolonialreichs, Nauru wurde vom Völkerbund ganz dem Mandat der Briten unterstellt, die zusammen mit ihrer Sträflingskolonie Australiern weiter Phosphat abbauten, bis die Insel im Zweiten Weltkrieg von Japanern eingenommen wurde, die kurz zuvor mit ihrem Angriff auf Pearl Harbor den Krieg im Pazifik ausgelöst hatten. An Naurus Küsten entstanden Bunkeranlagen, die teilweise heute noch stehen, die Ureinwohner wurden auf eine Hunderte von Kilometern entfernte Insel deportiert. Nur die Hälfte von ihnen kam zurück, und bei ihrer Rückkehr erkannten sie ihre Heimat kaum wieder. Die Amerikaner hatten sie im Krieg mit ihren Bomben perforiert und so der Mondlandschaft des Phosphatabbaus eine zweite hinzugefügt. Und dennoch war der Krieg die Wende für die Nauruer. 
Zwar wurde das Land noch dem Protektorat Australiens unterstellt, aber dessen längerfristigem Raubzug setzte das Völkerecht ein Ende. Darin nämlich war bestimmt worden, dass alle Protektorate nach einer Weile in die Selbstbestimmung entlassen werden müssen. Die australischen Verwalter versuchten alles, diese Unabhängigkeit hinauszuzögern, noch 1961 schlugen sie den Nauruern vor, sie auf das hundert Mal größere Fraser Island im Norden der australischen Provinz Queensland umzusiedeln. Doch noch einmal wollten sich die Nauruer nicht vertreiben lassen.

Am 31. Januar 1968 schließlich kann Nauru endlich seine Unabhängigkeit feiern. Erster Premierminister wird „Hammer“ Deroburt, der in Australien studiert hat und sich durch seinen Kampf gegen die australische Kolonialmacht einen Namen machte. Und der auch schon einen schönen Plan für das Land hat: Fortan sollen es die Nauruer selbst sein, die das Phosphat reich macht, selbst noch für die Zeit, wenn das Phosphat längst erschöpft sein sollte. 
Die Phospat-Company geht in den Besitz des nauruischen Volkes über, die Gewinne kommen dem Volk zugute, am meisten natürlich jenen, auf deren Land sich die Minen befinden. Im Jahr 1974 beträgt der Umsatz 450 Millionen australische Dollar – genug, um den Nauruern ein sorgenfreies Leben zu bieten. Steuern muss niemand zahlen, die medizinische Versorgung ist umsonst, die Jungen werden zum Studium nach Australien geschickt und dort in eigenen Luxusdörfern untergebracht. Die meisten Inselbewohner geben sich ihren Hobbys hin, sie kurven in ihren Pickups um die Insel, sie essen von Chinesen angerichtetes Fastfood oder halten sich einen Fregattvogel – das Wappentier des Landes. Dieser Vogel jagt nicht selbst, er wartet, bis andere Vögel einen Fisch im Schnabel haben, um ihnen den dann abzunehmen. 
Dieses „Naurutopia“ sei einer „Theorie des perfekten Sozialismus“ gefolgt, schreibt der französische Journalist Luc Folliet in einem Buch über den bizarren Inselstaat.* „In dem jeder einen materiellen und finanziellen Wohlstand genießen kann, der direkt von der Regierung bereitgestellt wird.“ Tatsächlich bezahlte der Staat Nauru seinen Bürgern selbst die Putzfrau und dem Polizeichef einen Lamborghini, dem nur wenige Tage beschieden waren, weil ihm eine Kokosnuss die Ölwanne zerschlug. Im Nachhinein fast so eine Art Menetekel.

Naurus Wachstum blieb nicht auf die Insel beschränkt. Im ganzen Pazifikraum kündeten die Flugzeuge der Nauru Airline vom sagenhaften Aufstieg des Landes. Die Fluggesellschaft verband andere abgelegene Staaten wie Tuvalu und Tonga miteinander, aber auch mit Japan und Australien, auch wenn manche Maschine nur wenige Passagiere flog. Auf den Fidschiinseln sollten Immobilienprojekte den Reichtum für spätere Generationen sichern, ebenso in Melbourne, wo Nauru 1977 mit dem Nauru House, den höchsten Wolkenkratzer Australiens baute. Heute heißt das einst stolze Gebäude nur noch Birdshit-Tower, und als großer Mist entpuppten sich auch viele andere Investments, mit denen die unbedarften Inselpolitiker die Zukunft ihres Landes verspielten, anstatt sie zu sichern. 
Die vom Phosphat in den Kapitalismus Katapultierten konnten sich eben kaum der unzähligen Einflüsterer erwehren, die große Geldmengen weltweit anlocken. Das war nicht nur bei den riesigen Immobliengeschäften so, sondern auch, als man in London ein obskures Leonardo-da Vinci-Musical finanzierte, das die Hochzeit von Leonardo mit Mona Lisa zum Höhepunkt hatte. Das Publikum floh, nur Politiker aus Nauru klatschten eifrig. Da war der Untergang schon recht nah. 
Anfang der neunziger Jahre waren schließlich 80 Prozent des Bodens auf Nauru abgetragen. Wo einst Kokospalmen und Regenwald wuchsen, ragten nur noch die weißen sogenannten pinnacles in die Luft. Wenige Jahre später waren die Phosphatvorräte schließlich nahezu erschöpft – wie in den sechziger Jahren von Wissenschaftlern vorhergesagt. Die Politiker des Landes suchten nach neuen Geldquellen, doch die, die sie fanden, waren weder nachhaltig noch immer mit dem internationalen Recht vereinbar. So gab es auf Nauru eine Zeitlang annähernd so viele Banken wie in Liechtenstein oder der Schweiz. Allesamt Briefkastenfirmen, gegründet zur Geldwäsche. Allein die russische Mafia soll 700 Millionen Dollar über Nauru geschleust haben. Das dreiste Finanzgebaren führte schließlich dazu, dass Nauru auf der Liste jener Staaten landete, die im internationalen Finanzverkehr unter strenger Beobachtung stehen. Die Deutsche Bank akzeptierte keinerlei Gelder mehr, die über Konten auf Nauru gelaufen waren. 
Ein anderes seltsames Geschäft war der Handel mit Pässen. Dass Nauru 1999 als 187. Staat der UN zu einem vollwertigen Mitglied der Völkergemeinschaft wurde, machte die Staatsbürgerschaft des Landes zu einem begehrten Objekt, das anscheinend gegen entsprechende Zahlung recht formlos zu haben war. Als 2002 zwei Al-Quaida-Mitglieder mit nauruischen Pässen festgenommen wurden, landete die Insel auf Colin Powells Liste der Schurkenstaaten. Aus dem Paradies war längst eine Hure unter den Nationen geworden, die sich an den Meistbietenden verkauft – was auch an der ständigen Fluktuation der Politiker lag. Eine Zeitlang wurden die Regierungen per Misstrauensvotum im Monatstakt abgewählt und neue eingesetzt. Es gibt Minister, die schon mehr als vier Ressorts innehatten – mit Kompetenz für keines davon. 
So kommt es auch, dass auf Nauru eine taiwanesische Botschaft existiert. Taiwan hilft dem Ministaat finanziell und erhält dafür Unterstützung in seinem Bemühen um Anerkennung als vollwertiger Staat. Aus Rücksicht auf China, das Taiwan als abtrünnige Republik ansieht, wurde ihm diese Anerkennung bislang von der UNO vorenthalten. 
Es gab aber auch Zeiten, da zog der taiwanesische Botschafter ab und machte Platz für seinen chinesischen Amtskollegen, weil China einfach mehr bezahlt hatten. Und wer weiß schon, warum Nauru den Walfang Japans unterstützt und als eines von drei Ländern die abtrünnige georgische Republik Abchasien anerkennt. Doch all diese Geschäfte haben nie dazu geführt, dass Naurus Haushalt saniert werden konnte. 
Betrug das Immobilienvermögen der Insel Ende der achtziger Jahre noch 1,2 Milliarden Dollar, so war es 2003 auf 130 Millionen geschrumpft. Inzwischen sind auch die weiter geschmolzen. Längst herrscht im einstigen Schlaraffenland ein ständiger Überlebenskampf – sogar wortwörtlich. Denn ein großer Teil der Bevölkerung ist krank. Fast jeder dritte Nauruer leidet an Fettleibkeit und Diabetes. Zwar gibt es dafür im südpazifischen Raum eine genetische Prädisposition – auch auf Tonga gibt es überdurchschnittlich viele Zuckerkranke – aber für das Ausmaß der Krankheit auf Nauru ist das gute Leben in früheren Jahrzehnten verantwortlich, als schon lange keiner mehr fischen und perlentauchen ging, sondern stattdessen dreimal am Tag den Pizzaservice bestellte.

Wann kann es ein Land doch noch schaffen? 
Wenn es aus seiner Vergangenheit lernt? 
Wenn ihm die anderen Staaten Gehör schenken und helfen? 
Oder wenn es unverhofft einen Schatz findet?

Einmal noch durfte sich Nauru in die Geschichtsbücher der Welt eintragen – als kurz nach Ausbruch des Kriegs in Afghanistan ganze Boote voll mit afghanischen Flüchtlingen von Indonesien Richtung Australien fuhren. Dessen damalige konservative Regierung in Canberra dachte gar nicht daran, die Asylsuchenden aufzunehmen, stattdessen erdachte sie die sogenannte pacific solution, sie deponierte die Flüchtlinge kurzerhand in Camps auf den Inseln der ozeanischen Weitläufigkeit. Auf Nauru entstanden gut bewachte Camps, in denen die Afghanen Jahre verbrachten, ehe es zurück in das vom Krieg heimgesuchte Land ging, oder – in wenigen Fällen – nach Australien.

Der heute amtierende Präsident Marcus Stephen ist ein starker Mann. Bei den Weltmeisterschaften der Gewichtheber 1999 holte er eine Silbermedaille, bei den Commonwealth-Games 1998 bekam er sogar dreimal Gold. Er nahm schon 1992 an den Olympischen Spielen in Barcelona teil – weil es kein Olympisches Komitee in Nauru gab, startete er für Samoa. Das Gewichtheben ist auf den Inseln im Südpazifik verbreitet – auf Nauru ist es so eine Art Naturbegabung. Überall in den Hütten am Strand stemmen die Jugendlichen schwere Gewichte. 
Marcus Stephen war schon Erziehungs- und Finanzminister, ehe er Präsident wurde. Auch das war er schon öfter. Mehrfach wechselte er sich mit seinem größten Widersacher Ludwig Scotty ab. Nun will Stephen aus Nauru so eine Art Modellland machen. Er weiß, dass sein Staat Mist gebaut hat, dass die Kolonialländer damit angefangen haben, das Land im Phosphatrausch zu zerstören, es aber naurische Politiker waren, die das Werk der Zerstörung vollendeten und die Zukunft verspielten – daheim in den Minen und auf den internationalen Immobilien- und Finanzmärkten. 
Der Absturz des Landes – so Stephens Plan – soll nun wenigstens der Welt ein mahnendes Bespiel sein. In seinem Leitartikel für die New York Times beschwor Stephen die Völkergemeinschaft, der Gier nach Öl und anderen Ressourcen nicht die Zukunft zu opfern. Tatsächlich ist die Zahl der Zuckerkranken in den Emiraten am Golf fast so hoch wie auf Nauru – auch das ein Resultat des Lebens im Überfluss. Bei der UNO wurde Stephen vorstellig, um auf Maßnahmen zur Verlangsamung des Klimawandels zu drängen, schließlich könnten pazifische Staaten wie Kiribati oder Papua Neuguinea durch den Anstieg der Weltmeere schon in wenigen Jahrzehnten unbewohnbar werden. „Ich vergebe jedem, der nie von Nauru gehört hat“, so Stephen, „aber niemand wird sich selbst vergeben können, der unsere Geschichte ignoriert.“ 

Nauru, einst Paradies, durch Vogelkacke erschaffen, dann jäh abgestürzt. Auf seiner Homepage präsentiert sich das Land als Ort für sanften Tourismus, für Tauchen, Schwimmen und Kunsthandwerk, für sanfte Renaturierung. Vielleicht können die 13.000 Einwohner so dem Untergang entgehen, wenn alle aus dem exzessiven Umgang mit den Ressourcen lernen. Einerseits. 
Anderseits lagert auf dem Meeresgrund, der nur einen Kilometer vor Naurus Küste in 1000 Meter Tiefe liegt, ein neuer unermesslicher Schatz: Mangan-Knollen. Faustgroße Klumpen, die nur wenige Millimeter in einer Million Jahren wachsen – voller wertvoller Rohstoffe wie Kupfer und Nickel oder den Metallen Lanthan und Neodym. Vor wenigen Wochen hat sich Nauru die Abbaurechte daran gesichert.

*Luc Folliet: „Nauru – die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte“; Wagenbach Taschenbuch

Zum Heft