Eine ganz normale Frau

Über einen Mann, der gern mal Urlaub von sich selbst macht

Von Oliver Gehrs; Fotos: Tobias Kruse

Wenn Jochen keine Lust mehr hat, Jochen zu sein, geht er an den Kleiderschrank. Neben Jeans, Hemden und Radlerhosen hängen da auch: Röcke, Blusen und Abendkleider. Außerdem gibt es Nylons, Slips mit Spitze und große BHs. Heute entscheidet sich Jochen für ein silbrig schimmerndes Oberteil, einen braun gemusterten Rock, eine weiße Maschen-Strumpfhose und hohe schwarze Stiefel. Es geht nach Bayreuth zum Sightseeing und ein bisschen Shopping.

Jochen ist ein Transvestit – oder sagt man das womöglich gar nicht mehr? Jochen, der sich als Frau Julia nennt, weiß es auch nicht. Es ist ihm auch ziemlich wurscht. „Wie wäre es mit DWT: Damenwäscheträger“, schlägt er vor und fasst sich dezent an den Busen, um das Silikonkissen im Büstenhalter gerade zu rücken.
Transmenschen, Intersexuelle, Crossdresser, Genderfluide – in der Gesellschaft geht es ja gerade viel ums Geschlecht und darum, ob’s auch passt. Bei manchen ist das Gefühl, im falschen Körper geboren zu sein, so übermächtig, dass sie ihr Geschlecht wechseln. Für Jochen kommt das nicht infrage, der Leidensdruck ist bei ihm nicht ganz so groß. Er genießt schon auch noch das Männerding: Bier trinken mit seinen Kumpels, am Wohnmobil herumschrauben, lange Rennradtouren. Aber immer wieder überkommt ihn eben die Lust, mal ein ganz anderer Mensch zu sein. Julia Köllner, eine Art Wochenend-Frau.

Angefangen hat das alles schon sehr früh. Als Junge stand Jochen manchmal vor dem Kleiderschrank seiner Mutter und probierte ihre Sachen an. Okay, das machen viele Kinder. Aber Jochen blieb dran am Thema und legte sich als Teenager einen kleinen Vorrat an Frauenklamotten zu. Dann Zimmer abschließen, Rollladen runter und rein in die sexy Unterwäsche. Das war schon sehr erotisch, erinnert er sich heute.
Aber in einer bayerischen Kleinstadt vielleicht auch nicht ganz normal. Vielleicht sogar ein bisschen pervers? Oder irgendwie krank? Das waren so die Gedanken, die sich Jochen in seinem Jugendzimmer machte. Immer und immer wieder – bis er schließlich einen ganzen Sack mit den schönen Klamotten zur Altkleidersammlung brachte und sich schwor, ab jetzt ein guter Junge zu sein.
Hielt aber nicht lange an. Bald juckte es ihn wieder, und Jochen und das Frausein führten eine Art On-off-Beziehung. Während der Schulzeit, in der Ausbildung, später im ersten Job: Immer wieder füllte sich sein Kleiderschrank aufs Neue, immer wieder schmiss er die Klamotten weg. Dann ein weiteres Comeback als Frau: intime Momente mit Make-up und tollen Perücken. Alles noch im stillen Kämmerlein.

Und dann kam das Internet, und Jochen entdeckte, dass er mit seinem Faible für Frauenkleidung ganz und gar nicht allein war. Aus allen Ecken des Webs kamen ihm die Schwestern entgegen. In Foren und auf Blogs erzählten Männer von ihrem Wunsch, ab und zu eine Frau zu sein. Gefühle, die Jochen gut kannte. Und dann erst das Angebot: Pumps in Größe 43, große Röcke mit Taille, Nylons, in die Männerbeine passten. Plötzlich ging es richtig voran mit der Weiblichkeit. Was einem das Internet allerdings nicht abnehmen kann: den großen Auftritt als Frau in der echten Welt.
Als Jochen zum ersten Mal mit Perücke, geschminkt und in sehr femininem Outfit das Haus verließ, lief er erst einmal nachts in seiner Kleinstadt um den Block. Herzklopfen, weiche Knie. Geschafft. Nächstes Level: mitten am Tag in einem anderen Ort, genügend Kilometer von zu Hause entfernt, über einen Platz gehen. Auch das lief sehr gut. Niemand schaute ihn blöd an oder machte Witzchen. Na ja, ehrlich gesagt hatte er auch kaum jemanden getroffen. Und dann überlegte Jochen noch mal genau: Eigentlich ja ziemlich bekloppt, in seiner Aufmachung irgendwohin zu gehen, wo nur wenig Leute sind. Weil er da ja umso mehr auffällt. Deshalb: ab in die Menge.
Also fuhr er mal nach Augsburg, schön shoppen am Samstag. Schon auf dem Weg das große Kopfkino: Was ist, wenn ich einen Unfall baue und sich der Sanitäter weigert, einen Mann in Damenklamotten zu retten? Was ist, wenn ich im Parkhaus in den Fahrstuhl steige und mir die Leute ganz nah sind und die Bartstoppeln sehen? Was, wenn ich erkannt werde? Ja, was ist dann? Gar nichts ist dann! Kein Unfall passierte, die Leute im Fahrstuhl guckten stur vor sich hin, und in der Fußgängerzone ging jeder wie immer seiner Wege. Was für ein Glück das für Jochen war. Eine ganz normale Frau zu sein – inmitten ganz normaler Menschen. Es fühlte sich an wie sein Coming-out – mit vierzig.

Heute ist Jochen 62 und verheiratet, seit zwanzig Jahren. Seine Frau hat er ungefähr in der Zeit kennengelernt, als die Sache mit Julia gerade ernster wurde. Klingt paradox, aber macht in der Julia/Jochen-Welt durchaus Sinn. „Ich bin nicht schwul“, sagt Jochen und: „Ich habe auch viele andere Hobbys.“ Zum Beispiel hat er immer extrem viel Sport gemacht, bestieg als Kletterer sogar Berge in den Anden, versuchte sich an einem Achttausender im Himalaja. Auf Bildern von damals sieht man einen kernigen, gut aussehenden Burschen mit ausgeblichenen Haaren und Bart. Heute fährt er lieber Rennrad, auch das Biertrinken scheint ihm Spaß zu machen. Seine Frau lernte er in der Kneipe kennen, lockerer Flirt beim Frischgezapften. Es dauerte nicht lang, da zog er zu ihr, wenig später schon wurde geheiratet.
Von seinem Doppelleben hat er ihr lange nichts erzählt. Doch dann kam sie eines Abends überraschend nach Hause, und er stand da in Rock und hohen Schuhen. Eine Katastrophe. Und große Panik auf beiden Seiten: Gestammel vom Mann in Frauenklamotten, Tränen der Frau in Frauenklamotten. Jochen verspricht: nie wieder. Alles wandert in den Müll, wie schon vor Jahren.
Aber auch diesmal dauert es nicht lange, da macht es ihn wieder an, Julia zu sein. Wieder wird heimlich Kleidung gekauft, heimlich geschminkt, heimlich durch fremde Städte gestakst. Und wieder kommt ihm die Ehefrau auf die Schliche, diesmal gibt es den ganz großen Zoff. Diesmal aber mag Jochen nichts versprechen, er will Julia nicht mehr verleugnen, es gibt Jochen nur noch mit ihr oder gar nicht.

Heute – einige Jahren nach diesen turbulenten Zeiten – geht Julia stolzer und zufriedener durchs Leben als je zuvor. Sie fährt zum Wochenendtrip in schicker Steppjacke nach Bayreuth, sitzt in Lübeck im schwarzen Rock in der Oper und fährt mit neuen Haaren nach Brügge. Die Vereinbarung sieht nun so aus: Jochen darf ab und zu Julia sein, aber sehen will ihn seine Frau beim Juliasein auf keinen Fall. Er soll auch bitte nicht darüber sprechen (und er wird ihr auf keinen Fall diesen Artikel zeigen).
Und so weiß niemand, dass es Julia überhaupt gibt: die Kollegen nicht, die Jochen als zupackende Arbeitskraft kennen, nicht die Freunde, die er abends auf ein Bier trifft, ja nicht mal seine Mutter. Obwohl er glaubt, dass sie ihn eher verstehen würde als sein Vater, der vor einigen Jahren gestorben ist.
Vielleicht ist es ja so, dass die Gesellschaft viel weiter ist, als man glaubt. Gerade am Anfang dachte Jochen noch, dass die Menschen komisch gucken und blöde Sprüche machen. Denn wie eine richtige Frau sah er ja – wenn man’s genau nimmt – nicht aus: kerniges Gesicht, stramme Beine, breite Schultern. Aber statt Ablehnung erlebte er stets eher Interesse und Neugier. Als er zum Beispiel ganz aufgeregt das erste Mal in eine Damenboutique ging, war die Bedienung sogar besonders nett und suchte begeistert Sachen für ihn raus. Und so war’s eigentlich immer. Er muss schon lange überlegen, wann er als Julia dumm angemacht wurde. Klar, ein paarmal haben ihn betrunkene Jugendliche beschimpft, aber das war’s dann auch.
Manchmal hat man fast den Eindruck, dass es Jochen ein bisschen zu glatt geht. Dass ihm inzwischen ein wenig die Spannung fehlt, dieser schöne Bammel vor dem, was passieren kann – wie damals, als er als Bergsteiger noch die hohen Gipfel bestieg.
Jetzt erhöht er einfach die Dosis und hat ein paar Dinge geplant, bei denen schon das Adrenalin durch den Körper schießt, wenn er nur daran denkt. Vorhaben 1: Er möchte gern mal als Frau in einem Flugzeug sitzen. Klingt banal, es gibt aber Hürden. Was ist zum Beispiel, wenn er beim Einchecken seinen Ausweis vorzeigt, in dem ja das Bild eines Mannes ist? Was passiert beim Gang auf die Bordtoilette? Nächste Challenge: es seiner Mutter sagen. Ihr vielleicht mal Julia vorstellen. Mit dem Gedanken spielt er schon lange, hat sich aber nie getraut.
Und dann der absolute Gipfel: mal Frau an der Seite eines Mannes sein. Mal so richtig schön eingehakt durch die Stadt bummeln, romantisch essen gehen, vielleicht sogar im Hotel einchecken. Er guckt jetzt immer schon im Internet, ob’s da einen gibt, der Lust auf so eine Nummer hat.
Aber Jochen, jetzt mal ehrlich: Wäre dann auch Sex im Spiel? Jetzt zeigt Jochen sein schönstes Julia-Lächeln. Nur soviel: „Ich möchte eine ganz normale Frau sein.“ Soll sich doch jeder selbst fragen, was das genau ist.

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