Es lag vieles in seinem Blick. Fassungslosigkeit, Unverständnis und, ja, auch ein bisschen Spott. Einer der Dachdecker war für eine Kaffeepause aus dem Obergeschoss heruntergekommen und linste in die Küche, wo ich seit Tagen eine Backsteinwand freilegte. Ich hatte den Putz abgeschlagen, die Steine mit einem Spachtel sauber geschabt und war gerade dabei, die Wand mit verdünnter Salzsäure von Zementschleiern zu säubern. Im Hintergrund lief das Hörbuch zu Michel Houellebecqs „Unterwerfung“, als ich auf allen vieren durch die Putzbrocken kroch, hochschwanger, andächtig Stein um Stein schrubbend. So vertieft in die Arbeit, dass ich das Kopfschütteln des Dachdeckers nur beiläufig wahrnahm.
Ich liebe alte Häuser. Je älter, desto besser. Ich liebe Backstein und Dielen, Stuck und Holzbalken. Schon immer stand fest: Nur mit einem Senior trete ich vor den Notar. Als wir uns entschieden, aus Berlin ins Brandenburger Umland zu ziehen, fiel die Wahl auf eine alte Bäckerei, Baujahr 1890. „Die Vergangenheit zur Zukunft machen!“, stand in der Anzeige – Maklerdeutsch für „Das wird ein Batzen Arbeit“. Unser Haus war eine Grande Dame im modernen Zwiebellook: Schicht um Schicht hatten die Vorbesitzer Neues aufgetragen, um die Vergangenheit zu ummanteln, das Antike zu kaschieren. Dem Ehepaar, nennen wir sie hier Hans und Hedi, stand nicht der Sinn nach Glanz und Gloria der Gründerzeit. Und damit waren sie nicht allein: Im Rahmen der sogenannten Entstuckung gehörte es deutschlandweit von den 1920ern bis in die Siebzigerjahre zum guten Stil, Gebäude im Sinne der Funktionalität optisch zu glätten. Stuckgesimse und Ornamente wurden abgeschlagen. Alte Bauernschränke, antike Stühle und Lampen landeten auf Sperrmüllhaufen. Heute Mode, damals: Mief. Die Menschen wollten die Gegenwart spüren und sehen, in neuen Materialien und bunten Farben.
Der Begriff „Nostalgie“ bedeutete damals noch schlicht: Heimweh. Erst im Laufe der Siebzigerjahre, als zunehmend Schatzsucher jene Sperrmüllhaufen für sich entdeckten und ihre Lavalampen auf Opas Kommode platzierten, kam die heute geläufigere Bedeutung hinzu. Der „Duden“ beschreibt sie etwas umständlich so: eine „vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik oder Ähnliches man wieder belebt“.
Auch unsere Bäckerei schmückt sich auf alten Schwarz-Weiß-Bildern noch mit einer Stuckfassade, hohen schmalen Fenstern und Rundbögen. Hans und Hedi aber hatten als Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebt und die entbehrungsreichen Jahre danach. Vergangenheitsverklärung war ihre Sache nicht. Sie wollten glatte weiße Flächen, große quadratische Fenster, freie Sicht in die Zukunft. Die beiden haben sicher nie den Begriff „Vintagelook“ bei Etsy eingetippt oder die Registerknöpfe eines alten Harmoniums zum Garderobenhalter upgecycelt. Die Bäckersfamilie gestaltete Haus, Backstube und Nebengelasse nach ihren eigenen Kriterien: Haltbarkeit und Nutzen. Ist das praktisch oder kann das weg?
Doch die Götzenbilder unserer Retro-Religion blieben als Schätze im Haus versteckt. Nur zufällig entdeckten wir, dass die unscheinbaren Türen tatsächlich wunderbare Kassettentüren sind, verkleidet mit Spanplatten. Wir staunten über die mit einer Tapete in Holzoptik beklebten Holzbalken. Und wir fluchten beim Freilegen der alten Dielen. Die hatte Hans mit Platten abgedeckt, zigfach verschraubt und jeden Schraubenkopf extra zugespachtelt. Es schien, als habe er alles Vergangene wie in einem verplombten Sarg versiegeln wollen – auf dass es nie mehr auferstehe.
Wir aber robbten über den Boden, kratzten jeden Schraubenkopf mit dem Küchenmesser frei, um endlich mit glänzenden Augen die alten Dielen hervorzuholen, wunderbar erhalten in ihrem Dornröschenschlaf. Und wieder rollten die Dachdecker mit den Augen: „Mensch, die müsst ihr ja noch schleifen! Warum verlegt ihr kein Laminat?“
Die Liebe zu alten Dingen, das ist unsere Erkenntnis aus nun knapp fünf Jahren Saniererei, scheint nicht nur eine Frage der Generation zu sein, sondern auch der Sozialisation. Manch pragmatisch veranlagtem Menschen ist Aufpoliertes aus der Vergangenheit ein Gräuel. Der Elektriker beispielsweise nagelte das Lampenkabel im Windfang einmal quer über die Holzdecke. Er war davon ausgegangen, dass wir sie noch abhängen würden. Kleinlaut gestanden wir, dass wir, im Gegenteil, die bestehende Abhängung entfernt hatten. „Wat? Auf die ollen Schwarten wollt ihr immer ruffkiekn?“
Was die Vintage-Verweigerer aber bei ihrem Spott vergessen: Die Besonderheit, in einem alten Haus zu leben, geht weit über Stile und Trends hinaus. Wir haben dieses Haus nicht erschaffen, sondern das Haus hat uns aufgenommen. Wir haben es nicht mittels einer Software am Bildschirm kreiert, per Mausklick mit Raumgrößen gepuzzelt, Türen und Treppen hin und her geschoben und dann die Leichtbetonwürfel aufeinanderstapeln lassen. Das Haus gibt vor, in welchem Rahmen wir uns hier selbst verwirklichen können. Es hat in all den Jahrzehnten vor uns einen eigenen schrulligen Charakter entwickelt, zwei Weltkriege überstanden, andere Familien beherbergt. Es ist schon so viel länger da als wir, länger als unsere Eltern und Großeltern. Das ist ein schönes Gefühl.

Zwar ist die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes „Nostalgie“ veraltet, der „Duden“ aber führt sie, als altmodische Variante, noch immer. Heimweh. Kürzlich besuchte uns Hans mit seinen Kindern und einer Enkelin. Seine geliebte Hedi, die immer gern witzige Sprüche machte – „Ihr habt uns unser Haus geklaut!“ –, ist inzwischen gestorben. Beim Gang durchs Haus lobten alle die viele Arbeit, die wir geleistet, die schönen Ideen, die wir umgesetzt haben. Die Backstube ist jetzt ein Wohnzimmer, die Küche ein Bad und die Garage ein Hühnerstall. Und trotzdem brachen Tochter und Enkelin plötzlich in Tränen aus.
Unsere Nostalgie ist nicht ihre. Indem wir heute den 130 Jahre alten Kern des Hauses entblättern, verwischen wir die Spuren aus den Jahrzehnten dazwischen. Die Vergangenheit, nach der Tochter und Enkelin sich in diesem Moment sehnten, ist nicht mehr sichtbar. Die mit den Gardinen, den Tapeten und dem Brötchenduft. Die, in der ihre Mutter und Oma noch lebte.
Hans aber gab sich pragmatisch. Jeder Besitzer, sagte er, habe in all den Jahrzehnten dieses Haus nach seinen Wünschen gestaltet. „Genauso soll es sein. Hauptsache, im Garten spielen wieder Kinder, wie damals – und ihr seid hier glücklich.“ Nächstes Mal, das ist abgemacht, besucht er uns im Sommer. Dann setzen wir uns auf die Veranda, die mal seine Waschküche war, und trinken einen Schnaps.