Wenn ich mir die Zahlen anschaue, dann bin ich einem hohen Suizidrisiko ausgesetzt. Als queerer Mann mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gehöre ich gleich drei Gruppen an, die rein statistisch öfter den Freitod wählen als andere Gruppen. Lediglich die Altersgruppe schränkt mein Risiko ein, da die Suizidrate im Allgemeinen mit höherem Alter steigt.
Was treibt einen Menschen in den Freitod? Die Frage kann ich nicht für alle beantworten, aber für mich. Und dennoch geben mir der Austausch mit anderen Betroffenen und Jahre der Therapie und der Recherche das Gefühl, dass alle Geschichten eine Gemeinsamkeit haben: Wenn sich das Leben anfühlt wie die Hölle, wollen Menschen gehen. Warum sie so fühlen? Auch auf diese Frage kenne ich keine Antwort. Aber ich weiß: Es gibt einen Ausweg, da bin ich mir sicher.

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Meinen ersten Suizidversuch beging ich mit elf. Ich las die Beipackzettel aller Tabletten, die im Badezimmerschrank lagen. Unter Nebenwirkungen stand auch etwas zu den Folgen einer Überdosis. „Wenn Sie mehr eingenommen haben, als Sie sollten …“ Vielleicht hatte ich in einem Film gesehen, dass Tabletten töten können. Paracetamol klang gut, es versprach mir, mich ins Koma zu versetzen. „Üblicherweise kommt es nach fünf Tagen entweder zu einer Erholung des Leberschadens, oder dieser geht in ein Multiorganversagen über, das tödlich enden kann.“ Tabletten schienen mir die sanfteste Variante eines Abschieds, weniger blutig, als sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Ich sammelte die Tabletten in einer kleinen Plastiktüte; die Sorte Tüte, in die meine Mutter mein Pausenbrot steckte. Ich nahm alle Tabletten auf einmal, morgens vor der Schule, in der Hoffnung, dass das Multiorganversagen schnell eintritt und mich von dem Schmerz befreit, der mein Leben ausmachte. Irgendwann in der Zeit zwischen meiner Kindheit und der damit einhergehenden Unbeschwertheit und den ersten Wellen der Pubertät verlor ich mich in einer tiefen Depression. Von einem normalen Leben zu einem Leben in der Hölle, ganz ohne akuten Auslöser. Aber das macht das Gefühl nicht weniger real. Mein Selbstmordversuch scheiterte: Mir wurde schlecht, und ich durfte von der Schule nach Hause gehen. Magen-Darm-Grippe, dachte meine Mutter. Nach ein paar Tagen ging es mir besser. Doch der Weltschmerz blieb.
Dass ich mich ritzte, fiel sowohl den Lehrern als auch meinen Eltern auf. Keiner konnte damit umgehen, alle schwiegen. Ich trug auch im Sommer lange Pullover, zog die Ärmel weit nach vorn. Wenn ich nach einem Grund suchte, nach einem haltbaren Argument für die innere Einsamkeit, die mich mit elf zu überrollen begann, dann fand ich es im Laufe meiner Teenagerjahre. Mein Coming-out mit vierzehn Jahren war der Wendepunkt. Von da an war ich nicht nur allein, ich war auch Zielscheibe von Aggressionen. Wenn ich meinen Eltern davon erzählte, zuckten die nur mit den Schultern. Ist doch deine Schuld, wenn du allen erzählst, dass du schwul bist.
Auch einige Lehrer regten sich darüber auf, dass ich offen zu meinem Schwulsein stand. Es hielt mich nicht davon ab, Diskussionen zu führen. Und einen Rucksack zu tragen, auf dem stand: Proud to be gay.
Mein Leben funktionierte von außen betrachtet gut: von der Realschule aufs Gymnasium, dann gleich ein Frühstudium neben dem guten Abitur, Überflieger an der Uni und ein Wechsel nach Berlin. Wenn ich mich in Bücher vergrub und meine intellektuellen Muskeln nutzte, waren die Gefühle weniger schlimm. Ich fand Anerkennung, Mitgefühl und Schutz. Und doch verfolgte mich ein Gefühl von Einsamkeit und Leere. Manchmal kam ich morgens nicht aus dem Bett, wollte nicht mehr aufstehen.

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Die Diagnose Borderline überraschte mich nicht, aber sie stellte mich vor eine Aufgabe. Die Suizidgedanken, der Drogenmissbrauch, das selbstverletzende Verhalten, die intensiven depressiven Phasen: Im Nachhinein hätte ich mich selbst sofort in Therapie geschickt. Aber mit 24 dachte ich: Das gehört zum Leben. Bis mir mein damaliger Partner sagte: „Du musst so nicht leben, such dir doch eine Therapie.“
Meine erste Therapeutin fragte mich Dinge, die mein Leben veränderten: Fühlen Sie sich innerlich leer? Haben Sie suizidale Gedanken? Haben Sie große Angst davor, verlassen zu werden? Sind sie impulsiv? Ja, ja, ja. Genau so fühlte ich mich – woher wusste sie das? Bisher waren meine destruktiven Gedanken und meine innere Leere ein Geheimnis, etwas Schambehaftetes, von dem niemand erfahren durfte. Die Therapeutin entwaffnete mich und gab mir ein neues Werkzeug: eine Persönlichkeitsstörung als Referenz für mein Verhalten. Bedeutete das, dass ich krank war?
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung hat keinen besonders guten Ruf. Nachdem ich mich gegen eine Behandlung bei der ersten Therapeutin entschied, suchte ich immer wieder den Krisendienst auf. Dort riet man mir: Borderline, das wollen Sie nicht haben. Sagen Sie das den Therapeuten nicht, am Ende will Sie keiner behandeln. Borderliner gelten als schwierig. Zudem bringen sich bis zu 20 Prozent der Diagnostizierten um – keine gute Prognose, und eine, mit der sich nicht alle Therapeuten belasten wollen.
Es sollte noch ein Jahr dauern, ein Jahr voller Krisen und Zusammenbrüche, manche mit Krankenhausaufenthalten, bis ich eine feste Therapeutin hatte. Nicht zu ertragen waren die Momente, in denen meine Gefühle so stark wurden, dass ich sie durch äußere Reize zu unterbrechen versuchte – mit Schmerzen. Deswegen das Ritzen als Teenager. Doch das hatte ich mir abgewöhnt. Zu dramatisch die Folgen, zu groß die Reue. Stattdessen fing ich nun an, mir auf den Kopf zu schlagen, als wäre das ein Ausweg. In einem sehr schlimmen Augenblick nahm ich meinen Mac und zog ihn mir selbst über den Kopf. Ich lag weinend und blutend auf dem Boden, musste mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht werden. Dieser traurige Höhepunkt war zugleich ein Wendepunkt. So offensichtlich war mein Leidensdruck, dass ich im Krankenhaus an eine Psychiaterin verwiesen wurde. Sie nahm mir die Scham über die Borderline-Diagnose, erklärte mir, dass es spezielle Therapiemöglichkeiten gäbe, und drückte mir die Adresse eines Borderline-Netzwerks in die Hand.
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Auch eine andere Person machte mir Hoffnung: Marsha M. Linehan. In ihrer Biografie „Building a Life Worth Living“ erzählt die US-amerikanische Psychologin ihre eigene Lebensgeschichte. Wie sie im letzten Jahr der Highschool plötzlich in ein Loch fällt. Wie sie suizidal wird. Und wie sie aus alldem einen Ausweg findet und in den Achtzigerjahren die Dialektisch-Behaviorale Therapie, kurz DBT, entwickelt.
DBT kombiniert Achtsamkeitstraining mit Verhaltenstherapie. Auf der einen Seite steht die Validierung, auf der anderen die Verhaltensveränderung. DBT brachte mir bei, dass es Fertigkeiten gibt, die ich lernen kann, um meine Gefühle zu regulieren. DBT brachte mir auch bei: Suizidgedanken sind auch eine Fähigkeit. So gedeutet, kamen mir die Fantasien über meinen eigenen Tod nicht mehr so gewalttätig vor. Sie bedeuteten schlicht Stressmanagement. Kein ideales Stressmanagement, aber ein Versuch. Der Wille war da, das Werkzeug ausbaufähig.
Ich war auf einem guten Weg, bis sich in meinem Umfeld ein Freund mit einer Überdosis das Leben nahm. Wir waren nicht eng befreundet, aber wir gehörten zum gleichen Kreis von Rave-Kids. Wir hatten uns mit Wangenküsschen begrüßt und zusammen getanzt. Als er starb, dachte ich: Das könnte auch mir passieren. Und mir wurde klar, dass ich etwas tun musste, wenn ich überleben wollte.

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Die Gruppentherapie fand jeden Mittwochnachmittag statt. Sie war nur für Selbstzahler, kostete 160 Euro im Monat, und jeder Teilnehmer sparte sich das Geld vom Mund ab. Vorher musste eine Vereinbarung unterschrieben werden: kein selbstverletzendes Verhalten, die Therapeutinnen befürchteten sonst eine Gruppeneskalation. Dreht einer durch, drehen alle durch. Keine Drogen während der Sitzungen. Und vor allem: kein Suizid während der Therapiephase. Das beeindruckte mich: Ich musste zwei Therapeutinnen und einer Gruppe von anderen Borderlinern versprechen, mich nicht umzubringen.
Wenn Suizidabsichten nur ein Mittel waren, um intensive Gefühle zu unterbinden, dann war ich jetzt im Bootcamp für neue Technologien. Wir lernten Achtsamkeitsskills kennen, damit wir uns nicht die Arme aufritzten. Wir lernten Atemübungen, die deeskalierend wirkten, wenn die ganze Welt zum Kriegsschauplatz unseres Traumas wurde. Unter uns war eine Polizistin von Anfang fünfzig, die erzählte, sie habe keine Spiegel im Haus, weil sie ihr eigenes Spiegelbild nicht ertrage. Wir nickten alle betroffen: Keiner im Raum hatte ein gutes Selbstbild. Sie sagte auch: Ihr seid alle noch jung, ich bin schon über fünfzig. Macht was aus eurem Leben. Ihr könnt euch noch ändern, bei mir ist der Zug schon abgefahren. Das berührte mich, auch wenn wir ihr alle widersprachen, gut zuredeten und zeigen wollten, dass es auch für sie Hoffnung gab.
Jeden Mittwoch ging ich nach der Therapie zum Yoga. Ich besorgte mir eine Meditations-App und vereinbarte mit meinem damaligen Partner Codewörter, um Streitigkeiten vorzubeugen, die uns sonst wie emotionale Hurrikans trafen. Anstatt mir selbst auf den Kopf zu schlagen, damit ich nichts mehr fühlen musste, roch ich nun an Lavendelkissen. Anstatt über eine Überdosis zu fantasieren, ging ich zur Körpertherapie und lernte, mich meinen Gefühlen zu stellen. Ich machte sogar eine Yoga-Ausbildung. Heute gehören Achtsamkeit und Meditation, Yoga und Atemübungen zu meinem Leben. Alles zusammen ist die Lebensversicherung, die ich mit mir selbst abgeschlossen habe. Je mehr ich über meinen Geist und meinen Körper weiß, desto weniger bin ich den intensiven Empfindungen ausgesetzt, die mich zeitweise überkommen, die ich nun aber akzeptiere. Wenn etwas Dramatisches in meinem Leben passiert, dann kommen sie wieder, die Suizidgedanken. Als ich mich von meinem Hund verabschieden musste, überfiel mich in der ersten Woche eine unvorstellbare Trauer. Der Tierarzt hatte meiner krebskranken Hundedame Tramadol verschrieben, ein Opiat. Sie ging, bevor die Packung leer war. In den schlimmsten Momenten wollte ich ihr folgen, um nicht mehr allein in meiner Wohnung sein zu müssen.
Die Möglichkeit eines Suizidgedankens werde ich niemals komplett ausradieren können. Name it, you tame it, sagte mir eine Therapeutin mal. Feel it, you heal it.
Als Borderliner musste ich zuerst lernen, wie das geht, das Fühlen, ohne dabei zu verbrennen. Ich musste lernen, wie es sich anfühlt, das Aushalten, ohne wegzulaufen. Dass ich auf Menschen traf, die mir dabei halfen, egal ob Therapeuten, Freunde oder Partner, dafür bin ich sehr dankbar. Das, was mein Risiko erhöht hat, queerer Mann, Borderliner, gehört heute zu den Aspekten meiner Identität, die mir am meisten Stärke geben. Sie erlaubten mir, Gemeinschaften zu finden, mich zu organisieren und unabhängig zu werden. Marsha M. Linehan schreibt: „A big part of DBT is saying yes.“ Ja sagen zum Leben, das war für mich ein weiter Weg, der sich gelohnt hat. Früher dachte ich jeden Tag an Selbstmord, heute meditiere ich jeden Tag. Wenn ich das kann, können andere das auch.