Gerade in Bayern, sagt Jörg, hat er immer noch das Problem, dass er Leuten, die er gerade frisch kennengelernt hat, oft irgendeinen Blödsinn auftischen muss. Weil sie damit, dass er keinen Alkohol trinkt und deshalb Cola bestellt, wo es doch gerade so „gmiatlich“ werden soll, einfach nicht klarkommen. Aber hier lebt er nun mal, und deshalb sagt er in solchen Situationen notfalls: Hatte eine Leberzirrhose, darf nicht mehr. Mit so einer höflichkeitshalber vorgetragenen Legende kann das Pendel, das auch den sozialen Status markiert, dann sehr schnell in die andere Richtung schwingen. Dann prosten die Leute ihm beinahe anerkennend zu, und es hat fast den Anschein, als mische sich ins Mitleid auch ein Schuss Hochachtung: Donnerwetter, der ist schon ein ganzes Stück weiter als ich.

Immer und andauernd solche Zugeständnisse zu machen war Jörg aber nicht bereit. Wäre er dem Alkohol und damit auch dem Feierabendbierchen mehr zugetan, hätte wohl auch seine berufliche Laufbahn eine andere Richtung genommen. Einmal hatte er ein Angebot auf dem Tisch, in seiner Traumstadt San Francisco für ein deutsches Unternehmen die Geschäftsführung zu übernehmen. Von seinem „CV“ her, wie er es ausdrückt, war er top geeignet. Allerdings auch nur, weil die Konsumgewohnheiten von Rausch- und Genussmitteln üblicherweise nicht im Lebenslauf verzeichnet werden, wenngleich sie für einen Job durchaus von Bedeutung sein können. Bei dieser Stelle ging es darum, Kontakte zu knüpfen, um das Unternehmen mehr im US-amerikanischen Markt zu verankern. Management by Schulterklopfing: Bevor man zur Sache kommt, viel mit den potenziellen Businesspartnern an der Bar rumhängen, plaudern, sich volllaufen lassen. Und nach der Vertragsunterzeichnung gleich noch mal drauf anstoßen. Das kam für ihn nicht infrage, sagt Jörg, die verpasste Gelegenheit bedauert er aber noch heute.

Dass für ihn das, was die Mehrheit als Genuss empfindet, so undenkbar ist, dass er gleich Lebenschancen sausen lässt, kann er nur so erklären: Ihm schmeckt es einfach nicht. Das stand für ihn schon mit sechzehn, siebzehn Jahren fest, als der Rest der Peergroup zur Flasche griff. Stattdessen fand Jörg im Sohn eines Gastwirts, der gewissermaßen am Stammtisch aufgewachsen war und den bitteren Geschmack des Alkohols ebenfalls verabscheute, einen besten Freund und Bruder im Geiste. Auch Rauchen kam für die beiden nicht infrage. Für den Freund, weil er seine verrauchte Wirtshauskindheit lieber im Nebel des Vergessens verschwinden ließ. Und für Jörg? Er hat mal als Siebenjähriger mit Freunden heimlich Zigaretten gekauft, und sie haben alle ein bisschen gepafft. Sein Vater hat es gerochen, als Jörg nach Hause kam, und das tat dann weh. Er hält es schon für möglich, dass sein Vater damals das Verlangen nach Zigaretten aus ihm herausgeprügelt hat, jedenfalls hatte er danach nie wieder Lust darauf. Aber auch weil es immer hieß: Wenn du das erste Mal auf Lunge ziehst, wird dir übel, und du musst dich übergeben. Warum sollte man so was tun?

Stattdessen fingen die beiden Freunde an, zusammen Musik zu machen, und gründeten eine Band. Ein Programm oder eine Weltanschauung aus ihrer Abstinenz zu machen, sich zum Beispiel „Straight Edger“ zu nennen, kam ihnen nie in den Sinn, trotzdem scharten sie mit der Zeit lauter Musiker um sich, die auch allesamt weder rauchten noch tranken. Das ergab sich so. Sie waren alles Typen, denen es als Rausch reichte, wenn sie gemeinsam in den Flow kamen und alles so richtig gut zusammenklang. Dann haben sie die Stimmung in dem Irish Pub, in dem sie regelmäßig spielten, ordentlich hochgekocht, bis der Guinness-Zapfhahn glühte. Ein Stammgast hatte den Spitznamen Always, weil er immer voll wie eine Kinderwindel war und das Lokal schon am frühen Abend torkelnd betrat. Die Band dagegen blieb stocknüchtern.

Nicht einmal Kaffee mag Jörg. Musik und Süßkram, das sind so seine Genussmittel. Ein Ausbund an Willensstärke ist er eben auch nicht, nicht, wenn es um Schokoriegel geht. Mit denen, so gibt er zu, hat es irgendwann so überhandgenommen, dass er seine Vorräte sicherheitshalber ins Gefrierfach gelegt hat, damit er sie nicht immer so schnell wegfuttern konnte. Dann aber kam regelmäßig der große Schoko-Jieper, er legte die Dinger auf die Heizung, und weg waren sie.

Den großen drogeninduzierten Kontrollverlust, den wollte er nie, den wusste er immer zu verhindern. Wobei es bei manch einem Liebeskummer, so vermutet Jörg, wohl ganz hilfreich gewesen wäre, sich auch mal abschießen zu können. Überhaupt: Er hat ja durchaus Verständnis für Leute, die das wollen, sich wegbeamen. Sollen sie doch trinken oder härtere Sachen nehmen. Er ist sogar für die Legalisierung von Cannabis. Dass der allgegenwärtige Alkohol viel desaströser sein kann, ist für Jörg offensichtlich. So offensichtlich wie die vielen Bierleichen, über die man in München zu Oktoberfestzeiten hinwegsteigen muss. Aber bitte, solange die kollektive Alkoholsucht seine Lebensqualität und Freiheit als Abstinenzler nicht weiter beeinträchtigt.

Das ist mit dem Rauchen anders. Raucher sind für Jörg echte Junkies. „Wenn du denen mal die Zigaretten wegnimmst, haben sie ein Problem“, sagt er. Jahrelang hat er sich das Gift der anderen ins Gesicht pusten lassen. Das ist er heute leid. Da ist er wiederum froh, in Bayern zu leben, dem Land, das beim gastronomischen Rauchverbot vorneweg war und es besonders streng handhabt.