Das kurze wilde Leben

Warum nicht mal ein Gemälde von Emil Nolde klauen

Von Bartholomäus von Laffert

An einem Freitagmittag Mitte Juli, fast genau vier Jahre nach der wildesten Nacht seines Lebens, sitzt ein junger Mann auf einer Bank auf einer Wiese in Leipzig und versucht sich zu erinnern. Das Gras ist gelb, erbärmliches Froschgequake, sirrende Mückenschwärme über einem Tümpel. Die Hitze sirrt, der Kopf des jungen Mannes sirrt auch. Einmal noch will er seine Geschichte erzählen. Er, Lukas D., 26, Masterstudent der Theaterwissenschaften, verurteilt wegen schweren Diebstahls. Schon komisch, sagt Lukas, das ist nicht wie meine Geschichte, das ist wie die Geschichte von irgendwem anders. Irgendwie ausgedacht. 


Wären da nicht die zwei dicken Leitz-Ordner, die er zum Treffen mitgebracht hat, um sich selbst zu glauben. Der eine voller Gerichtsakten, der andere voll mit Briefen. Handgeschrieben auf Seidenpapier und ausgedruckt auf DIN A4, die der Vater und die Freunde Lukas geschickt haben. Leicht verwischt auf Schreibmaschinenpapier die Antwortbriefe, die der Lukas dem Vater und den Freunden schrieb und die Staatsanwaltschaft abkopierte. Obenauf geheftet ein Brief an seine beste Freundin. 

Liebe Jana,
vielen Dank für deinen lieben Brief. … Hanna und du, ihr müsst euch ja echt Sorgen gemacht haben! Das tut mir so leid! Alice dachte schon, ich liege im Koma oder so, und meine Freunde aus Erlangen haben sich so Sorgen gemacht und wollten mich als vermisst melden, weil ich nicht vom Feiern nach Hause kam.

Die Geschichte, die sich Lukas selbst nicht glaubt, nimmt ihren Anfang, da ist er fünfzehn oder sechzehn vielleicht. Zu der Zeit hat Lukas beschlossen, ein wildes Leben zu leben. Ein Beschluss befeuert durch die Biografien, die er damals, nicht mehr Kind und noch nicht ganz erwachsen, gelesen hat: über Kurt Cobain, Gauguin, Humboldt und, Lukas’ ewige Nummer eins, Uschi Obermaier. Nicht politisch, nicht intellektuell wie die anderen Achtundsechziger, mehr Instinktmensch als große Philosophin, und trotzdem oder gerade deshalb hätte sie fast die Kommune 1 gesprengt und fast die Rolling Stones. „Ich wollte alles von dieser Welt. Ich wollte alles durchmachen, und ich wollte im Hier und Jetzt leben“, hat Obermaier einmal in einem Interview gesagt. Besser hätte man Lukas’ damaliges Lebensgefühl nicht ausdrücken können. 


Abgesehen davon gibt es schon viele Gemeinsamkeiten zu den Filmen. Wir haben die gleichen Klamotten an wie Prison Break, falls du das kennst. Morgens um 6 Uhr geht die Klappe in der Tür auf, und es wird überprüft, ob wir noch leben. Dann ist irgendwann Hofgang. Da geht man auf dem Hof die ganze Zeit im Kreis. Überall sind Mauern, gesäumt von Stacheldraht. Es gibt zwar ein Basketballfeld, aber keine Basketbälle. Um 10.30 Uhr gibt es dann Mittagessen. Dann um 15 Uhr Abendessen. Morgens hat man dann auch eine Stunde Aufschluss. Da sind die Zellen im Gang offen, und man kann gemeinsam chillen und duschen. Duschen kann man nur dreimal die Woche, am Wochenende gar nicht, weil es da keinen Aufschluss gibt.


Am Mittag des 14. Juli 2014 sitzt Lukas leblos, nicht tot im Zimmer seines Studentenwohnheims in Erlangen und fühlt sich dem wilden Leben so fern wie selten zuvor. Lukas, 23, Student der Theaterwissenschaften, noch hetero, nicht schwul, schluckt eine Citalopram, zwanzig Milligramm, um die Depression zu verjagen, die ihm Wochen zuvor eine Ärztin attestiert hat. 


Er starrt auf das Keyboard, auf die Trompete, die Schreibmaschine, die zwei nervtötend pfeifenden Zebrafinken in einem Käfig. Er weiß längst nicht mehr, warum er sie sich eigentlich angeschafft hat, genau wie den ganzen anderen Krempel. Aber das ist ihm eigentlich egal, wie ihm alles egal ist. Er fühlt sich leer, wartet wie jeden Tag nur darauf, dass es Abend wird und er das Loch, das die Depression aufgerissen hat, mit Alkohol zuschütten kann. Zum Glück ist Fußballweltmeisterschaft, 14. Juli 2014, Finale, Deutschland – Argentinien. Nach Nürnberg wird er fahren, um das Spiel zu gucken, zusammen mit seinem besten Kumpel, sechs Stunden sind es noch bis zum Anpfiff. 


Von meinen Freunden darf ich leider nicht so viel erzählen, glaube ich. Die sind auf jeden Fall alle sehr nett zu mir. Hier gibt es echt die unterschiedlichsten Arten von Kriminellen. Die du dir nur denken kannst. Die meisten waren schon voll oft im Gefängnis, aber mir wird das nicht passieren. Es ist schon alles beschissen gelaufen. Wir waren auf dem Dach ja nur, um den Sonnenaufgang anzuschauen. Da waren die ganzen Dachfenster offen, und daneben hat ’ne Leiter gelegen. Und betrunken, wie wir waren, haben wir nicht nachgedacht. Und heute bin ich genau 2 Monate in U-Haft.


Was nach dem Anpfiff, in der Nacht vom 14. Juli auf den 15. Juli 2014, passiert, kann Lukas ganz genau nicht sagen. Mehr seien das Rekonstruktionen von Erinnerungen, Ungefähres. Könnte so stimmen, muss nicht, sagt Lukas. Weil durchs Immer-wieder-Wiederholen etwas entsteht, was es so vielleicht nie ganz gegeben hat. Was der Lukas sicher weiß und niemals vergessen wird: Am Ende der Nacht hat er seinen besten Kumpel verloren, sitzt er in einer weißen Wartezelle, weiß nicht, wie lange schon, nicht, wie viel Uhr es ist, und wartet wieder: diesmal darauf, dass er dem Haftrichter vorgeführt wird, der den Tatsachverhalt zu rekonstruieren versucht. Zu Beginn des Protokolls wird festgehalten:


Tatsachverhalt
Am Abend des 14.07.2014 sahen sich die Angeklagten gemeinsam mit mehreren Freunden, unter anderem den Zeugen G., I. und S., das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft auf dem Public-Viewing-Gelände des Nürnberger Flughafens an. Bis zum Ende des Spiels hatten beide etwa fünf Bier zu je ½ Liter getrunken. Nach dem Sieg der deutschen Nationalmannschaft wollten die Angeklagten dies feiern und liefen deshalb in den frühen Morgenstunden des 15.07.2014 allein in die Nürnberger Innenstadt, wo jeder noch etwa 1,5 Liter Bier und einige Schnäpse trank. 


Ich werde wohl nicht vor dem Amtsgericht verhandelt, welches das niedrigste ist, auch nicht vor dem nächsthöheren. Sondern vielleicht kommt mein Fall sogar vor eine Strafkammer. Das Strafmaß für Kunstdiebstahl ist nämlich genauso hoch wie für Hochverrat und sogar höher als für Kindesmissbrauch. Ich verstehe es einfach nicht, aber man ist machtlos. Hoffen wir einfach das Beste. … Ich bin so froh, dich zu haben. Sind wir auch Freunde, wenn wir uns jahrelang nicht sehen, weil ich hierbleiben muss?


In einer letzten Erinnerung, bevor das wilde Leben begann, steht Lukas zusammen mit dem Kumpel in einer Karaoke-Bar und singt „Forever Young“, bis er gar nicht mehr weiß, warum er eigentlich singt, weil er Karaoke nicht besonders mag. Deshalb laufen die Kumpels nach draußen, noch bevor der Song zu Ende gespielt ist. Wenige Meter von der Bar entfernt entdecken sie ein Baugerüst. Sie klettern nach oben, wollen auf dem Dach den Weltmeister-Sonnenaufgang sehen. Sie finden den Sonnenaufgang und darunter, auf dem Dach, Fenster wie die eines Gewächshauses. Sie drücken die Fenster auf, steigen hinab. Statt Pflanzen befinden sich hinter den Gewächshausfenstern Dutzende Bilder. Kein urbaner Dachgarten, dafür Germanisches Nationalmuseum. Fasziniert funzeln sie mit Handy-Taschenlampen. Bis der Lichtkegel auf einem Bild haften bleibt: ein Mann, eine Frau, ein Tisch im Grünen. Daneben an die Wand geschlagen ein Zettelchen, darauf geschrieben: 
Öl auf Leinwand
Künstler: Emil Nolde
Titel: Herr und Dame

Nicht geschrieben steht:
Geschätzter Wert: ca. 1.000.000 Euro


Lukas, kein Kunstkenner, aber mit gutem Geschmack, der Emil Nolde schon gehört, aber die Epoche nicht zuordnen kann, denkt sich, dass das Bild, 46 x 65 Zentimeter, gut passen könnte ins Studentenwohnheim, über sein Bett. Er nimmt es von der Wand, zusammen mit dem Kumpel klettert er nach draußen. Er steht oben auf dem Dach, fühlt sich – vier Jahre später wird er es so erzählen – wie einer dieser Gangster aus den Ami-Serien. Irgendwie unbesiegbar und nur im Spiel. Unten heulen wütende Polizeisirenen, nervös zuckt das Blaulicht an der Museumswand. Der Kumpel ruft ihm noch zu: Los, Lukas, häng das Bild zurück! Lukas entgegnet etwas wie: Nee, wegen so was kommt man doch nicht in den Knast!


Im Vernehmungsprotokoll, das am nächsten Morgen, als Lukas wieder nüchtern, der Übermut der Vernunft gewichen ist, im Untersuchungsgefängnis angefertigt wird, steht: „Abschließend möchte ich betonen, dass es sich hier um eine reine Dummheit gehandelt hat.“ 


Schlimmer als bei Kassandra kann es ja nicht werden. Kennst du Kassandra von Christa Wolf? Kassandra ist eine Seherin und die Einzige, die der Stadt, in der sie lebt, Unheil voraussagt. Und keiner glaubt ihr, obwohl sie nur helfen will, und sie wird ungerechterweise zum Tode verurteilt. Nun sitzt sie in der Zelle und in der Dunkelheit und hängt ihren Erinnerungen nach. Einen Teil kann ich sogar auswendig, weil ich ihn immer ganz schön fand (du weißt, dass ich manchmal sehr theatralisch sein kann:
„Für mich nur noch die Vergangenheitssprache. Die Gegenwartssprache ist für mich auf Worte für diesen dunklen Ort begrenzt. Die Zukunft beinhaltet für mich nur dieses eine Wort: den Tod“. Wobei ich glaube, dass es doch ein wenig anders ging, aber egal.


In der folgenden Zeit steht Lukas an jedem Morgen vor dem Zellenspiegel, guckt sich in die Augen, während er das Unmögliche sagt und sich selbst nicht glaubt: Du, Lukas D., bist im Gefängnis. Er stellt sich vor bei den Mithäftlingen: Freut mich, Lukas, Kunstdiebstahl, und du? Dealer, Betrüger, Totschläger. Nur mit den Kinderschändern redet er nicht, mit denen redet niemand. Er liest viel, er raucht viel, einmal wird er bewusstlos und kippt in der Zelle um. Er bekommt einen Job, der der Zeit wieder Struktur gibt, und fährt Bücher aus, von Zelle zu Zelle, viel Schach-Literatur, Konsalik-Schnulzenromane, Gangsterrapper-Biografien. Wenn im Musikfernsehen Taylor Swift läuft, dann tanzt er: ’Cause we’re young and we’re reckless / We’ll take this way too far / It’ll leave you breathless / Or with a nasty scar / Got a long list of ex-lovers / They’ll tell you I’m insane / But I’ve got a blank space baby / And I’ll write your name. Er bekommt Briefe und schreibt noch mehr. An seinen Vater, an seine Freunde, an Jana. Zu Beginn mit der Hand, später mit der Schreibmaschine. Mehr als hundert werden es bei seiner Freilassung sein.


Ja, wegen den Depressionen muss ich immer noch Medikamente nehmen. Ich will die Medikamente absetzen, weil es mir eigentlich gut geht, also als psychisch stabil würde ich es bezeichnen, aber ich glaube, hier drin ist nicht der beste Ort. Aber ich rede mal mit der Ärztin. Vielleicht ist hier drin doch der richtige Ort …


Am 2. Dezember 2014, da sitzen Lukas und sein Kumpel bereits fünf Monate in U-Haft, wird in Nürnberg das Urteil verkündet. Fünfzehn Monate für den Kumpel, einundzwanzig für Lukas. Auf Bewährung, beide. Die längste Nacht des wilden Lebens ist vorbei. 


„Ich habe viele Dummheiten gemacht. Aber keine, die ich bereue“, hat Uschi Obermaier einmal in einem Interview gesagt. Daran muss Lukas, 26, Student der Theaterwissenschaften, von der Depression weitgehend geheilt, jetzt denken, während er die unglaubliche Geschichte zu Ende erzählt, die sich nicht wie seine eigene anfühlt. Und was hast du aus dieser Dummheit, aus deiner Zeit im Gefängnis gelernt?, möchte man von Lukas wissen und hofft auf eine überraschende Pointe, eine einleuchtende Moral. Der Lukas fährt sich durch die dunklen Locken, die an den Spitzen blond gefärbt sind, und versucht sich zu erinnern. 


Das ernsthafte Angebot der Kunstuni Saarbrücken, ein semesterlanges Seminar über die Befreiung der Kunst zu geben, hat er abgelehnt. Die Schmeicheleien der Kunstprofessoren, keiner habe im vergangenen Jahr für die Kunst mehr getan als er, ließen ihn kalt – er hat sie schlicht nicht verstanden. 


„Na ja“, sagt Lukas schließlich, nachdem er eine Weile geschwiegen hat. „Ich weiß jetzt halt, dass ich schwul bin. Ich bin nicht mehr depressiv. Und sonst? Eigentlich nichts.“ Er schiebt den Ordner mit den Briefen herüber, in denen der Rest geschrieben steht. 


Ich bin so froh, dich zu haben. Sind wir auch Freunde, wenn wir uns jahrelang nicht sehen, weil ich hierbleiben muss?


Dein bester Freund

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