Kloppt euch

Warum eine Welt voller Einzelkinder eine bessere wäre

Von Boris von Brauchitsch

„Ich hole mir jetzt den gröööößten Joghurt!“, rief Sylvia* und rannte aus dem sommerlichen Garten ins Haus, durch den verwinkelten Flur, die enge Treppe hoch, wieselflink um den Küchentisch und riss die Kühlschranktür auf. Sylvia war vielleicht sechs, und ihre beiden älteren Brüder folgten ihr sofort auf den Fersen, zwar größer und stärker, aber in den Kurven des verzwickten Parcours vom Sandkasten bis zum Joghurt nicht ganz so wendig. Deshalb erreichte die kleine Schwester tatsächlich als Erste den Ort, der sich im Handumdrehen in einen Tatort verwandelte. Denn kaum hatte Sylvia einen der sechs oder sieben identischen Joghurts gepackt, waren die Brüder auch da. Der größere, M., schlug ihr den Becher aus der Hand, so dass er zu Boden ging und zerplatzte, der kleinere, A., packte seine Schwester und zerrte sie von der Nahrungsquelle fort, während M. nun im Bewusstsein seiner Überlegenheit den Kühlschrank zuschlug und sich, den Rücken an die Tür gepresst, davor postierte, als gelte es, als wahrer Patriot das Nationalheiligtum vor dem Zugriff finsterer Mächte zu schützen. 


Ich, das Einzelkind, hatte zuvor mit den drei Geschwistern entspannt im Schatten alter Bäume Boccia gespielt, war von der plötzlichen Panik des Aufbruchs überrascht worden und gemächlich hinterhergetrottet. Folglich ließ sich das Geschehen vor dem Kühlschrank für mich nur noch anhand der Indizien rekonstruieren. M. sicherte noch die Vorräte, als ich in die Küche kam, A. kauerte heulend mit blutiger Nase auf dem Boden, weil die Schwester ihn wild um sich schlagend erwischt hatte, und Sylvia war längst wieder von der Szene verschwunden.


Bei allen dreien, das sei angemerkt, handelte es sich im Individualmodus um intelligente Menschen, wenn Sylvia auch die gewitzteste war. Doch jedes Denken setzte aus, sobald der Geschwistermodus in Kraft trat, und das mit einer Unmittelbarkeit, die auch den simpelsten Geistesblitzen und Schlussfolgerungen keine Chance mehr gab. Allen Beteiligten war im Grunde klar, dass alle Joghurts aufs Gramm genau industriell abgefüllt waren. Allen war auch klar, dass es genug Joghurt für alle gab. Und doch, das Schicksal musste seinen Lauf nehmen, unentrinnbar wie in einem Shakespeare-Drama, was mir eine der ersten selbstständig erworbenen Erfahrungen meines Lebens bescherte: Die Gefahr einer geistigen Totalblockade potenziert sich mit der Anzahl der Geschwister.


Da die meisten meiner Freunde Geschwister hatten, konnte ich meine empirischen Studien über Jahre fortsetzen. Dabei wurde ich Zeuge von Schnitzeljagden in Speisezimmern, bei denen zwei Brüder mit dem Messer aufeinander einstachen, oder von blinder Zerstörungswut, in deren Rausch Schwestern sich gegenseitig Lieblingsshirts zerschnitten. Überhaupt erlebte ich ein Ausmaß an Sadismus und Niedertracht, das ich bis dato nur mit fernen Kriegsschauplätzen und mit Idi Amin, dem mythischen Despoten meiner Kindheit, in Verbindung gebracht hatte. Geschwister zu haben brachte unausweichlich eine enorme Verschwendung von Ressourcen mit sich. Wie viel Ehrgeiz und Aufmerksamkeit wurde hier in das Ersinnen von Gemeinheit investiert. Doch ich musste erkennen, dass dies die Normalität war. Normal, das war das Abartige. Nicht normal, das war ich, das Einzelkind. 


Bedrohlich erschien mir, wie sich diese hasszerfressenen Kreaturen urplötzlich und unberechenbar gegen mich verschwören konnten, um mich – als artfremden Alien mit genetisch abweichendem Koeffizienten – in die Zange zu nehmen und an mir die Wirkung ihrer kranken, im Geschwisteralltag gereiften Überspanntheiten zu erproben. Ich wurde zwangsläufig zum Einzelkämpfer und erfuhr früh, was es heißt, einer Minderheit anzugehören. Ich sah mich gegeißelt, in die Enge getrieben, mit Dreck beworfen – alles im wörtlichen Sinne. Und wenn ich mich zur Wehr setzte, zurückschlug, mir etwas nahm, was mit zustand, dann war ich das typische Einzelkind. Denn Einzelkinder waren egoistisch und verwöhnt, das war ja allgemein bekannt. Und sie hatten nicht gelernt zu teilen. 


Da die Nichteinzelkinder noch immer eine bequeme Dreiviertelmehrheit im Lande besitzen, was bekanntlich häufig dazu verleitet, die eigene Mehrheit mit der allgemeinen Wahrheit zu verwechseln, halten sich solche Ansichten hartnäckig. Dabei genügt ein Blick auf in die Jahre gekommene Geschwister in jenem magischen Moment, wenn es was zu erben gibt, um zu sehen, dass sie es sind, die lebenslang das Teilen nicht gelernt haben. Die Szene vor dem Kühlschrank wiederholt sich dann nur zu oft in anderen Dimensionen.


Auch Einzelkinder lernen nicht zu teilen. Aber sie müssen das auch nicht lernen. Denn für sie ist Teilen kein Elend, sondern ein Triumph. Teilen ist die schönste Sache auf der Welt, und schöne Sachen macht man einfach, die muss man nicht mühsam antrainiert bekommen. Denn Teilen verspricht die Aufmerksamkeit der anderen, Teilen verbindet und schafft Freunde. Was kann es Schöneres geben – für ein Einzelkind? 


Auf dem Spielplatz im lauschigen Park um die Ecke meines Elternhauses war ich selten allein. Warfen andere Kinder einen neugierigen Blick auf mein Spielzeug, dann war ihr Interesse ein Kompliment für mich. Ich besaß etwas, das sie gern haben wollten. Und was gab es Herrlicheres, als dass andere an dem Spaß fanden, was ich mitgebracht hatte? Umso mehr verwirrte mich dann das Geschrei so eines im Rudel konstituierten Geschwisterkindes, dessen Schaufel ich zum Graben ausgeborgt hatte. Die Schaufel hatte unbeachtet herumgelegen, aber kaum ergriff ich sie, brach ein Gezeter los, das mich alles, was ich in Händen hielt, weit von mir werfen ließ, nur damit das Geplärr ein Ende finden möge. 


Was mich auf dem Spielplatz rat- und sprachlos ließ, das war der Normalfall, die ewige Mehrheit. Damit würde ich ein Leben lang leben müssen. Und wenn ich mich umsah: Jeder andere schien mit dieser geschwisterkausalen Deformation gut leben zu können. Dabei war der Schaden, den das wiederholt ausgelebte Reproduktionsbedürfnis der Eltern am einzelnen Nachkommen anrichtete, unübersehbar. Das musste wohl auch was mit Liebe zu tun haben, dachte ich mir schon damals. Ich als Einzelkind fühlte mich mehr oder weniger von meinen Eltern geliebt, Rudelkinder aber fühlten sich zwangsläufig mehr oder weniger geliebt als ihre Geschwister. Dazu kamen die Hackordnung, die jedem Rudel nun mal eingeschrieben ist, und die Erkenntnis, dass der freie Wille unter Brüdern und Schwestern keinen besonders hohen Stellenwert besitzt. Nicht mal selber aussuchen konnte man sie sich. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ein Widerspruch in sich selbst. Stattdessen Eifersucht, Repression, Entrechtung. Diese Kombination konnte nur zu bleibenden Schäden führen. 


Davon bleiben Einzelkinder verschont. Was für ein Potenzial an Konflikten und Exzessen, das ihnen entgeht! Was für Kraftanstrengungen, die sie nicht aufbringen müssen, die so spektakulär und exzessiv Funken schlagen, um dann im Orbit zu verpuffen! Wo wären wir, würde diese an Brüder und Schwestern verschwendete Energie in Kultur, Wirtschaft und Forschung fließen? Die Welt wäre besser, gäbe es nur Einzelkinder.

Zum Heft