Sie wundern sich über diese leeren Zeilen? Sie fragen sich, was zur Hölle das soll? Sie meinen, Sie hätten ja schließlich Geld bezahlt, um hier unterhalten zu werden? Sie haben sich aber stattdessen gelangweilt, Ihre wertvolle Zeit verschwendet, in der Sie doch Smalltalk mit einem sogenannten interessanten Menschen hätten betreiben können, darüber, wie es denn so läuft, wie die Aktien stehen, gut, gut, mein Lieber, hahaha, toller Pulli übrigens, ist der neu, von Lacoste, schick, höhöhö, und zu Hause, wie geht’s zu Hause, hast du das Spiel gesehen gestern, Wahnsinn, der Dings, der Müller, Hammer, aber dieses Wetter, nein, was soll’s, bald ist ja Frühling, lass uns mal wieder segeln oder zumindest telefonieren, mein Bester – so in der Art? Mich halten Sie hingegen für einen Kommunikationsverweigerer, einen Griesgram, einen ungehobelten Knasterer, der nichts sagt, weil er nichts zu sagen hat, mit dem man nicht segeln und schon gar nicht telefonieren will, kurzum: für einen Idioten? Na, dann wissen Sie ja, worauf ich hinauswill.
Jedenfalls habe ich, indem ich hier eingangs nichts geschrieben habe, schon mal die gleiche Wirkung erzielt, wie wenn ich nicht rede. Was ich oft tue, eigentlich meistens. Ja, ich bekenne: Ich bin ein Schweiger. Einer, der nichts, jedenfalls nicht viel sagt, weil er nicht so schnell sprechen kann, wie er denkt, der manchmal auch einfach uninteressant findet, was er denkt, und sich lieber selbst zensiert, als Bullshit von sich zu geben – und dabei doch eine vermeintliche Botschaft aussendet. Denn wie wir seit Paul Watzlawick wissen: Man kann nicht nicht kommunizieren.
Und so wird mein Schweigen zur Projektionsfläche für das, was andere über mich denken, obwohl ich ja noch kein Wort gesagt habe. Manche glauben, ich sei schlecht gelaunt. Das sind vornehmlich die, die – zumindest aus meiner Perspektive – viel zu gut gelaunt sind. Manche glauben auch, ich sei arrogant. Das sind die, die mich langweilen. Und manche denken eben, ich sei dumm. Das sind die ganz Schlauen. Sie kennen viele Wörter und benutzen sie alle.
Zum welchem Typus des Schweigerverächters gehören Sie denn, wenn ich fragen darf? Machen wir noch mal den Test. Ich habe jetzt eh schon viel zu lang Konversation mit Ihnen gemacht. Also los:




Und? Wie geht’s? Ertragen Sie mein Schweigen schon nicht mehr? Wirkt es vorwurfsvoll auf Sie, überheblich – oder eher dumpf und unkultiviert? Wenn Letzteres zutrifft, gehören Sie wahrscheinlich zur Mehrzahl. Die meisten Leute, denen ich nicht genug rede, dürften sich mein Gehirn wie eine Geisterstadt vorstellen, durch die ein verirrter Steppenroller weht, während das ihrige ein einziges blinkendes Las Vegas ist. Ich kann das nicht empirisch belegen, meistens wenden sich diese Leute ja nach wenigen Minuten unangenehmsten Gesprächskrampfes von mir ab und dem nächstbesten Eloquenten zu, und ich kann sie schlechterdings nicht nach dem Eindruck fragen, den ich bei ihnen hinterlassen habe. Und? Wie war ich? Das ist kein so unheimlich passender Satz, wenn man zuvor geschwiegen hat.
Es war aber einmal auf einer Party der Redaktion dieses Magazins, dass ich regelrecht mit Händen greifen konnte, für wie elendig dumm mich die Kollegen halten mussten. Ich war neu in dieser Runde, ein bisschen aufgeregt und hatte mir fest vorgenommen: Heute sprichst du mit den Leuten, du Idiot! Und dann ging gar nichts mehr. Man hätte eher einen Stein melken können, als mit mir ins Gespräch zu kommen.
Erschwerend kam hinzu, dass ein guter Freund, der mich auf diese Party begleitet hatte und der eigentlich ein noch entschlossenerer Schweiger ist als ich, ein vermeintlicher Komplize also, an dem ich mich hätte festhalten können, wenn uns beiden nichts Geistvolles über die Lippen gekommen wäre, dass dieser gute Freund also an diesem Abend aus unerfindlichen Gründen und zu meiner allergrößten Betrübnis redete wie ein Wasserfall: Iran? Jaja, interessant, da war ich auch mal im Urlaub, ein faszinierendes Land, nicht wahr? Jazz? Thelonious Monk ist mir zu hysterisch, ich bleibe lieber bei Coltrane. Was sagen Sie zum neuen Roman von Richard Ford? Und so ging es weiter, er kannte sich aus und sprach darüber, ein Universalgelehrter des Smalltalks, bislang unbekannte Menschen reichten ihm Sektkelche, um seine Zunge noch weiter zu lockern und noch mehr zu hören von seinem virtuosen Parlando. Und ich saß daneben, verletzt, verlassen, neidisch, und fühlte mich wie ein Bauer, der sich so gerade eben die Namen seiner drei Kühe merken kann. Na ja. Um ehrlich zu sein: von maximal zweien. 
Ich fuhr an diesem Abend sehr deprimiert nach Hause. Vielleicht haben die Leute ja recht, und ich bin wirklich ein Idiot. Vielleicht könnte ich das in einem eingehenden Selbstgespräch herausfinden. Wenn ich denn auf all die Fragen überhaupt antworte.