Fast hätte sie sich ihren eigenen Preis verdient. Eine Hitzewelle drückte die Stadt nieder. Wendy Northcutt hatte keine Klimaanlage, aber eine Idee: Im Hausflur gab es diese Luke zum Keller, die, ließe man sie offen, sicherlich auch ihre Erdgeschosswohnung abkühlen würde. Dann klingelte das Telefon. Das Gespräch dauert mehrere Stunden. Northcutt vergaß die Luke im Flur wieder. Bis sie, den Hörer aufgelegt, hineinstürzte. Die Geschichte ging dann doch recht glimpflich aus. Gemessen daran, wie solche Geschichten üblicherweise ausgehen, wenn sie bei ihr, bei Wendy Northcutt, landen.
Northcutt ist die Frau hinter den Darwin Awards. Sie hat sie gegründet, sie pflegt sie, hegt sie, eine halbe Ewigkeit schon, der Preis ist ihr Baby, auch wenn das schrecklich unpassend, weil niedlich klingt. Denn die Darwin Awards kriegen jene, die auf stupideste Weise aus dem Leben scheiden. Der Amerikaner, der zum Killerwal ins Bassin steigt. Der Soldat aus Alabama, der beim Weitspuckwettbewerb so viel Schwung holt, dass er vom Balkon stürzt. Der Feuerwehrmann, der selbst zündelt und dabei verbrennt. Der Partygast, der die Menge erheitern will, indem er den Tropenfisch des Gastgebers verschluckt, aber erstickt, weil das Tier seine Rückenstacheln aufrichtet.
Gestorben wird immer. Sterben allein genügt nicht. Die Darwin Awards sind ein Fest der Dummheit. Eine Fete, zu der nur Idioten eingeladen wurden und auf der die ganze Zeit nur ein Song läuft, Let It Be von den Beatles nämlich.
Das Phänomen waberte schon seit den 80er-Jahren durch das Usenet, den Vorläufer des Internetforums. Hier tauschten sich Geeks über Sex, Musik und skurrile Unfälle aus. Wendy Northcutt studiert damals Molekularbiologie an der Universität in Berkeley. Testet Bakterien, züchtet Viren, filetiert DNA. Evolution im Mikroskopischen. Vom Usenet begeistert, schreibt die junge Frau Kettenmails an ihre Freunde und Bekannten, in denen sie absurde Todesmeldungen teilt, selbst zusammengerafft. Erst ist das Pennälerhumor, ähnlich dem Programm Facemash, das Mark Zuckerberg in Harvard programmiert, um über den Fuck-Faktor von Studentinnen abzustimmen. Aus Facemash ist das Weltnetzwerk Facebook geworden. Aus Northcutts Mails gehen die Darwin Awards hervor. Ein amüsanter kleiner Spleen.
1993 meldet sie die dazugehörige Webseite an. Wechselt die Uni, Stanford jetzt, Krebs und Telomerase sind die neuen Forschungsfelder, aber dem Hobby bleibt sie treu. Ist das nicht die bessere Forschung, verständlich für jeden, anschaulich, lustig obendrein? 1998 exmatrikuliert sich Northcutt. Sie will Vollzeitdarwin sein. Baut ihre Seite aus, will noch mehr Zuschriften, eine noch größere Community. 2000 erscheint das erste Buch und wird zum Bestseller, den die „New York Times“ sechs Monate lang listet. Wendy Northcutt ist jetzt wer. Aber wer ist eigentlich Wendy Northcutt?
Zurückgezogen lebt sie bis heute in einem sehr sauberen, sehr amerikanischen Viertel von San José, Kalifornien. Interviews gibt sie zu Beginn ihrer Karriere noch ein paar, zuletzt fast keine mehr. Northcutt kommuniziert über ihre Webseite, ist ihre Webseite, lässt sich Darwin nennen. „Approved by Darwin“, so steht es über den Episoden, deren Wahrheitsgehalt die Chefin selbst geprüft hat. Längst schafft Northcutt es nicht mehr, alle Einsendungen zu sichten, zu viele sind es geworden, 500 im Monat, Zeitungsschnipsel, Gerüchte und Polizeimeldungen. Ein paar Freiwillige helfen ihr. Manche User schlachten gnadenlos ihre Familiengeschichte aus, berichten vom verstorbenen Onkel Tommy, vom eigenen Vater, der sich kastriert hat. Einmal auf der Webseite erwähnt werden, einmal den Darwin Award gewinnen, ihnen scheint es das Größte.
Bei einer Konferenz hat Northcutt gesagt, sie verstehe sich immer noch als seriöse Wissenschaftlerin. Ob die Dummheit der einen tatsächlich dazu beitrage, dass die anderen klüger würden, wurde sie da gefragt. Im evolutionären Sinne schon, ja, Northcutt nickte. Das ist ihre Überzeugung, der Kern ihrer lustig gemachten, aber ernst gemeinten Beiträge: Wer im Zuge einer hemmungslos blöden Aktion verstirbt, verhindert so, dass seine Gene an die nächste Generation weitergereicht werden. „Chlorinating the gene pool“, den Genpool säubern, Northcutt hat gegrinst. Und David Gerrold zitiert, ein Bonmot: „The problem with the gene pool is, there’s no lifeguard.“
Tierisches Pech, gefährliches Familienleben, fatale Stürze, Liebschaften, Feuer und Explosionen, Penisneid – die Darwin Awards sind aufwendig kategorisiert. Über eine von Northcutt kuratierte Vorauswahl stimmen die User ab. Der Preis wird natürlich posthum verliehen. Northcutt tritt auf als Mischung aus Thanatologin und Kasper, aus Elisabeth Kübler-Ross und Amy Schumer. Sie sieht zu harmlos aus, um Sadistin zu sein. Ist im Ton nie so böse, dass man ihr böse ist. Eher den Esoterikern scheint die Lady im Blumenkleid zugehörig, mit naiven Ketten behängt, mittelgescheitelt und bebrillt, eine Frau, die wie ein Mädchen wirkt. Northcutt war es, die dem Darwinismus, der stets unter Pauschalverdacht steht und diffus nach Klassenkampf und Weltkrieg klingt, die Narrenkappe übergestülpt hat.
Man liest darwinpreisverdächtige Geschichten ja selbst ständig in der Zeitung, wenn man noch Zeitung liest. Jäger erschießt Hirsch, Hirsch erschlägt Jäger. Frau vom eigenen Auto überrollt. Mann entmannt sich selbst. Man stockt, schmunzelt, blättert um. Northcutt war dieses Schmunzeln nie genug, sie hat daraus mehr gemacht. Hat das Schmunzeln fast ein Vierteljahrhundert in die Breite gezogen, bis ein Lachen draus wurde. Ein Lebenswerk, das über die Toten lacht? Northcutt kuratiert den Tod, damit das Leben lustiger wird, das klingt besser. Weil Comedy eben auch nur ein lustiger Weg ist, ernst zu sein. Northcutt hat mit ihren Awards das Internet, wie es heute existiert, vorweggenommen. Die Kurzweiligkeit, die ironische Distanz, die Häme.
All die Kopfschüttler, die Hasser, die Pietätsprinzipler, sie waren natürlich einkalkuliert bei einem Dada-Projekt wie diesem. Darf man das? Muss das sein? Muss natürlich nicht sein, aber dürfen muss man das. Bis heute unerreicht großartig in ihrem Unverständnis ist Ulrich Kühnes Rezension für die „Süddeutsche Zeitung“, in der er Northcutt Sensationsgier, ein pubertierendes Gemüt und Geschmacklosigkeit vorwirft. Was Kühne kritisch meint, beschreibt einfach nur notwendige Eigenschaften, die es wohl braucht, um sich so einem Ding voll und ganz zu widmen. Der absurde Tod als Aufgabe für ein absurdes Leben.
Gelegentlich empfängt Northcutt Mails von Leuten, die ihren Freund oder Angehörigen in einer der Geschichten wiedererkennen. Sie wird gebeten, die Einträge zu löschen. Sie weigert sich. Northcutt glaubt an die Publikationsfreiheit und daran, dass die Awards größer sind als das Schicksal Einzelner. Verklagt wurde die Frau, die sie Darwin nennen, nie.
Und so sind die Darwin Awards ein popkulturelles Phänomen und erfolgreich, weil sie Urinstinkte in uns ansprechen. Mit ihnen verhält es sich wie mit dem Autounfall: Man kann nicht wegschauen. Die Darwin Awards nähren in uns die Angst, zum Idioten zu werden. Sie sind ein ständiger Donald-Duck-Moment: der naive Erpel, der ein Loch in seine Eisscholle sägt, um zu angeln. Aber er sägt um seine eigenen Beine herum und versinkt im kalten Meer!
Northcutt ist die Grande Dame des kleinen Trottels. Sie setzt den Donalds dieser Welt ein Denkmal, das in Wahrheit ein Mahnmal ist. Pass bloß auf, wohin du gehst, sonst gehst du drauf! Versuch nicht, schlauer zu sein, als du bist, das wäre dumm! Über Geschmack kann man streiten. Über Geschmacklosigkeiten kann man lachen. Jedenfalls hier, bei ihr, den Darwin Awards. Hier kommt jeder auf seine, das heißt anderer Leute Kosten. „Wenn niemand von deinem Tod erfährt, bist du für immer fort und verschwunden“, hat Wendy Northcutt mal gesagt. „Aber wenn du einen Darwin Award gewinnst, wirst du unsterblich.“