Der Lack ist ab 

So richtig geil sind wir Deutschen auch nicht 

Von Dirk Gieselmann

Bei einem Bürgerdialog in Nürnberg lobte ein junger Mann Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihren unerschütterlichen Glauben, dass die sogenannte Flüchtlingskrise zu meistern sei. Ein Freund von ihm, fügte er an, sehe das übrigens genauso. „Na, dann“, so Merkel, „sind wir ja schon drei.“ 


Ein bitterer Scherz. Denn Merkel weiß: Die Gegenseite hat deutlich mehr Zulauf.
Und wer ihr da zuläuft, das sind auch diejenigen, die sich vor nicht einmal zehn Jahren, bei der Fußballweltmeisterschaft 2006, noch als friedfertige „Musikantenstadl“-Patrioten gerierten. Sie behaupteten damals, die Welt sei zu Gast bei Freunden. Vier nachtlose Wochen lang feierten sie mit ihren neuen exotischen Freunden aus Brasilien, Japan, Australien, zum Teil sogar aus Afrika ein einziges bierseliges Schützenfest, taten den letzten Schritt heraus aus dem Schatten der Vergangenheit, über die Opa nie und Guido Knopp dafür umso öfter sprach, direkt auf Platz eins der Weltrangliste der friedfertigsten Völker und klemmten sich bedenkenlos Deutschlandfähnchen ans Dach ihrer Familienkombis. „Schwarz-rot-geil“, titelte die „Bild“ damals, wie besoffen von sich selbst und diesem Land, dessen neue, so viel leichtere Geschichte sie mitzuschreiben meinte. 


Und offenbar gibt es nicht wenige Deutsche, die tatsächlich der Auffassung gewesen sind, dass dieses Turnier so etwas wie eine Prüfung ihrer Toleranz gewesen sei, die sie mit Bravour bestanden hätten. Wer aber damals wirklich hier war und seither gerne wiederkommt, mit Rollkoffern und Selfiesticks im Anschlag, das war und ist natürlich nur eine privilegierte Delegation dieser Welt, zahlende Kundschaft, die Devisen mitbringt – gute Laune obendrein – und sich vorm Betreten der Fanmeile ordentlich die Schuhe abputzt.


Jetzt, zehn Jahre danach, bricht aber eine ganz andere Welt über Deutschland herein, und sie taugt so gar nicht für gemeinsame Erinnerungsfotos vor der Spaßtorwand. Die Verzweifelten, die es hierher drängt, haben Meere durchquert, Angehörige darin ertrinken sehen, Zäune niedergewalzt, sie sind beladen mit all ihren Traumata und ihrer Not, und sie wollen nicht Fußball gucken, Bratwurst essen, sie suchen Schutz vor Krieg und Elend. Und die große Frage ist nun: Sind wir immer noch Freunde? Schaffen wir das?


Laut Angela Merkels persönlicher Zählung glauben das in diesem Land also nur noch drei Menschen. Auch wenn es ein paar mehr dann doch sein dürften: Was ist mit dem verdammten Rest? 


Nicht wenige derer, die sich 2006, als es noch so schön einfach war, „Freunde“ nannten, klemmen sich jetzt wieder ihre Fahnen sonst wohin, gehen wütend durch Dresden, Leipzig, Köln spazieren und rufen: Bleib mir bloß weg mit dieser Welt! Sie nennen sich wieder „Patrioten“, wie damals, 2006, nur dass eben die Leichtigkeit fort ist und die Friedfertigkeit sich auch zusehends verabschiedet. 


Schauen wir uns diese Leute, die inzwischen die Schnittmenge zwischen Fanmeilenbesuchern und Protestspaziergängern bilden, einmal genauer an. Nicht diejenigen wohlgemerkt, die Galgen zimmern, hetzen, gewaltbereit sind, ja, die zeit ihres trüben Lebens einfach nur einen Vorwand gesucht haben, um endlich mal richtig loszuschlagen. Sondern diejenigen, die auf scheinbar plötzliche und zutiefst beunruhigende Weise deren Nähe suchen: vermeintlich Zivilisierte, die man sich als gar nicht mal so unsympathische Sitznachbarn beim Elternabend hätte vorstellen können, patent wirkende Funktionsjackenträger, die sich einigermaßen verständlich artikulieren können, vermutlich bislang Stammwähler von Parteien der Mitte waren und auf längeren Autofahrten gern Chris de Burgh hören, Bausparer, freiwillige Feuerwehrleute, Bonuspunktesammler, die am Morgen beim Bäcker 100-mal „Danke ebenso“ flöten, unsere lieben Mitbürger also, die noch schnell die Kleinen zum Schwimmunterricht fahren, bevor sie zu Pegida gehen, sich dort vor die Kameras stellen und sagen: „Ich habe Angst um meine Kinder!“ und dann weiter Schulter an Schulter mit stiernackigen Neonazis durch die Innenstadt marschieren, ohne darin auch nur den geringsten Widerspruch zu erkennen. 


Was ist eigentlich mit denen los? Was ist das für eine Angst, die sie zu haben glauben?


Die deutsche Angst ist ja weltberühmt, ängstlich sein können wir beinah noch besser als Fußball spielen. „German Angst“ ist das internationale Wort dafür, Curzio Malaparte hat darüber geschrieben, auch Thomas Wolfe in „Es führt kein Weg zurück“ von 1953. „Ihm wurde klar“, so heißt es dort, „dass diese ganze Nation von der Seuche einer ständigen Furcht infiziert war: gleichsam von einer schleichenden Paralyse, die alle menschlichen Beziehungen verzerrte und zugrunde richtete. Der Druck eines ununterbrochenen schändlichen Zwanges hatte dieses ganze Volk in angstvoll-bösartiger Heimlichtuerei verstummen lassen, bis es durch Selbstvergiftung in eine seelische Fäulnis übergegangen war, von der es nicht zu heilen und nicht zu befreien war.“


Dieser „Druck eines ununterbrochenen schändlichen Zwanges“ hat viele Biografien geprägt, bis hinein ins mickrig Private: Früher hatten sie Angst vor Gespenstern, Angst, dass die Mama sie im Einkaufszentrum vergisst, Angst vor der Schule, wo sie die Hälfte der Zeit kopfüber in einer Mülltonne verbrachten, weil es der Klassenschläger so wollte, und wenn sie zufällig selbst dieser Klassenschläger waren, hatten sie Angst vor dem Moment, da niemand mehr Angst vor ihnen haben würde. Dann kam die Angst vor Akne, die Angst, beim Tanzkurs als Letzter gewählt zu werden. Nicht zu vergessen die Angst, dass die Großeltern oder auch nur die Meerschweinchen sterben, die Angst vor Tschernobyl, Saddam Hussein und Dieter Zurwehme, und ganz so, als hörte das nie auf, schloss sich nahtlos die Angst vor der Zukunft an, einhergehend mit der quälerischen Erkenntnis, dass, egal wie hart sie auch arbeiten, diese verdammte Zukunft immer vor ihnen liegen und damit auch die Angst bleiben wird, wo sie ist: nämlich in ihnen. 


So verschanzen sie sich also in ihren Ikea-Trutzburgen, sind gegen so gut wie alles versichert, informieren sich über Möglichkeiten des Vermögensaufbaus, der ausgewogenen Ernährung und der Fitness bis ins hohe Alter, lesen Wellness-Ratgeber und posten buddhistische Sinnsprüche im Internet, tätowieren sich „Carpe diem“ auf den Fußknöchel, schauen Mährobotern bei der Pflege ihres Rasens zu, während sie über die Nachteile der Technisierung jammern, prosten, den Camp-David-Pullover um die Schultern geschlungen, mit dem Bananenweizen in der Hand auf ihrer Lieblingsnordseeinsel der untergehenden Sonne zu – und offenbaren dabei eine existenzielle Leere, die einen unbeteiligten Beobachter ganz traurig machen kann. Haben sie einer ernsteren Krise als dem Ausfall von ICE-Klimaanlagen überhaupt noch etwas entgegenzusetzen? Oder haben sie vielleicht die Vorstellungskraft dafür verloren, was echte Not bedeutet? Es gibt tatsächlich Leute, die es für den Untergang des Abendlandes halten, wenn die Yogastunde ausfällt, weil in der Turnhalle Flüchtlinge schlafen.


Anderswo toben Kriege, wüten Stürme, die Welt wird enger und rückt an uns heran, dagegen hilft den Ängstlichen keine Hausratversicherung. Ihre illusorische Hoffnung, dass Deutschland von den globalen Problemen unberührt bleiben würde, sie schwindet zusehends dahin. Das könnte ja durchaus etwas Positives an sich haben: Wir könnten jetzt beginnen, nicht mehr nur in Samtgemeinden zu denken, sondern in Sphären, den Planeten endlich als Ganzes zu begreifen, der uns ohnehin nicht den Gefallen tun wird, uns zu verschonen, wenn er mit Mann und Maus untergeht. 


Doch die Welt ist offenbar für viele zu groß, um sie in ihren Zusammenhängen zu begreifen, zu zynisch, um noch von so etwas Kitschigem wie Weltfrieden zu träumen, und zu chaotisch, um sie nicht als eine feindselige Wüste zu erachten, die gleich hinter Belgien und Österreich beginnt. Statt sich zu weiten, engt sich ihr Weltbild ein: Ihr Streben nach Wohlstand wandelt sich rapide zur Angst vor seinem Verlust, vor Veränderung überhaupt – und vor dem, was sie bewirken könnte: vor dem Fremden.


Den Blick des Deutschen, der sich vor dem Verlust, der Veränderung, dem Fremden ängstigt, hat jeder schon im Kleinen erlebt, der einmal an einem garstigen Winterabend mit mehr als drei Leuten ein Restaurant betreten hat: Dann ist er von den bereits zu Tische sitzenden Gästen angeglotzt worden wie ein bedrohlicher Eindringling, der ihnen das Schnitzel vom Teller ziehen will. Minutenlang, mitunter den ganzen Abend dauert dieser Blick an, er ist voller Argwohn, der bei jeder falschen Bewegung, bei jedem zu lauten Lachen in blanke Verachtung umschlagen kann. Wer diesen Blick kennt, der weiß, wie eng die Angst vor dem Verlust mit animalischem Futterneid verwandt ist. 


Angesichts einer Völkerwanderung nach Deutschland, wie wir sie gerade erleben, verliert manch einer, der in ständiger Angst um sein wohlverdientes Schnitzel lebt, offenbar endgültig die Fassung. Seinen Sarrazin auf dem Nachtkästchen, träumt er unruhig von wilden Horden, die ihm seinen Wohlstand streitig machen. Es ist eine Metapher für vieles um uns herum, dass in so vielen deutschen Vorgärten direkt neben dem Vogelhäuschen eine Abwehrkrähe steht.


Im Februar letzten Jahres zündete ein Finanzbeamter in seinem Heimatort Escheburg unweit von Hamburg ein Flüchtlingsheim an. Er habe Angst um „das Schöne“ gehabt und dass „die Idylle beeinträchtigt“ werde, sagte er beim Prozess vorm Lübecker Landgericht aus. „Wer erklärt denen, wann der Müll rausgestellt werden muss, wenn die kein Deutsch verstehen?“, fragte der Biedermann, der selbst zum Brandstifter geworden war, die Richterin. 


Andere wiederum ängstigen sich nicht vor dem Niedergang der Hausordnung, sondern vor dem Terror, der, so glauben sie, von den Flüchtlingen ins Land getragen werde, vor einer systematischen Infiltration durch den IS, der auf ein Kommando hin das ganze Land in Schutt und Asche legen werde. Dabei ist es doch, das schrieb Nicholas Kristof schon 2013 in der „New York Times“, wahrscheinlicher, von einem herabfallenden Fernseher erschlagen zu werden, als einem Anschlag zum Opfer zu fallen.


Warum gehen eigentlich so wenige Menschen auf die Straße, um gegen herabfallende Fernseher zu demonstrieren? Gegen Kegelclubs, die friedliebenden Menschen mit ihrem schamlosen Gesaufe die Mußestunden vermiesen? Gegen Mario Barth? Gegen Raser auf den Straßen? Gegen den Volkswagen-Konzern, dessen manipulierte Dieselmotoren Feinstaub und Stickoxide in die Atemluft blasen? Gegen die Bauämter, die mit ihrer Sparkassenarchitektur die Städte in Höllen des Brutalismus verwandeln? Gegen zockende Banker? Gegen Massentierhaltung? Gegen die miese Bezahlung von Erzieherinnen, Hebammen und Krankenschwestern? Gegen den Verfall der Schulgebäude? Gegen schlechtes Fernsehen? Gegen Jugendarbeitslosigkeit? Gegen Kinderarbeit? Gegen die Verschmutzung der Ozeane? Gegen Waffenexporte? Gegen die Verursacher der Kriege, vor denen die Millionen fliehen? Gegen objektiv bestehende Gefahren für die Gesellschaft, gegen ihre Verrohung und Dekultivierung – sondern gegen verschwörungstheoretische der sogenannten „Islamisierung des Abendlandes“?


Es scheint, als würde sich all die mühsam kontrollierte Angst vor dem ganz persönlichen Niedergang jetzt endgültig Bahn brechen. Man hat sich so lange zusammengerissen, jetzt aber wird die Angst geradezu lustvoll zelebriert, im schützenden Kreise Gleichängstlicher. Angstpornos wie Akif Pirinçcis „Deutschland von Sinnen“ werden mit ähnlicher Hingabe verschlungen wie Charlotte Roches „Feuchtgebiete“. Was bislang unter der Bettdecke blieb, findet nun auf offener Szene statt. Ein Exhibitionismus der Angst, ein Angstvergleich: Wer hat die größere?


Möglicherweise ist diese Enthemmung ein Symptom eines gesamtgesellschaftlichen Burn-outs. Möglicherweise besteht eine Korrelation zwischen der Steigerung von Fehltagen wegen Erschöpfungssyndromen um mehr als 80 Prozent in den letzten 15 Jahren und einem Exzess der Angst. Die Kraft, seine Affekte unter Kontrolle zu halten, reicht nicht mehr aus. Der Lack ist ab. Es ist nicht ohne Ironie, dass diejenigen, die von gescheiterter Integration poltern, im Begriff sind, sich zu extegrieren. 
Bricht man ihre Angst wieder herunter auf den Kern, so steht sie da als die kleingeistige, die sie ist: als Angst davor, teilen zu müssen. Der „ZEIT“-Kolumnist Thomas Fischer, Bundesrichter in Karlsruhe, hat vorgerechnet, dass, selbst wenn alle 60 Millionen Kriegsflüchtlinge dieses Planeten nach Deutschland kämen, die Bevölkerungsdichte immer noch niedriger wäre als die der Niederlande. Und dennoch werfen die ängstlichen Deutschen ein Handtuch auf ihr Land wie auf einen mallorquinischen Liegestuhl, um es für sich selbst zu reservieren. Sie waren zuerst hier.


Nicht von ungefähr zeigte sich Innenminister Thomas de Maizière geradezu gekränkt, dass die Afghanen nicht in Afghanistan bleiben, wo die Deutschen es ihnen dort doch so schön gemacht haben. Polizisten, Soldaten und auch „viele Summen von Entwicklungshilfe“ seien dafür aufgebracht worden. Da könne man, so de Maizière, „erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben.“ So wie wir ja schließlich auch, nicht wahr?


Weil sie zuerst ihr Reihenhaus und ihren Carport auf diesen Flecken Erde gestellt haben, wollen die Ängstlichen nun einen Zaun bauen, der diejenigen abhält, auf die es in ihrer Heimat Fassbomben regnet. Dieser Zaun wäre 3621 Kilometer lang. Das glauben sie zu schaffen, diese Baumarktpatrioten. Zum Stacheldraht gibt es bestimmt ein neues Deutschlandklemmfähnchen fürs Kombidach gratis dazu. Schönen Tag noch! Danke ebenso! Notleidenden Asyl zu gewähren, das schaffen sie aber nicht.


Man kann wirklich Angst bekommen vor denen, die Angst haben.

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