In den Armen des Allmächtigen

Kann man aus jedem Menschen einen Muslim machen? Wir haben es zumindest mal probiert. Protokoll eines Glaubenseintritts 

Von Fabian Dietrich

I
An einem Samstagmittag im Herbst wurde ich ein neuer Mensch. Es passierte in einer öden Fußgängerzone, irgendwo zwischen Deichmann und einem schlimmen Laden namens Back-Factory. Das Pflaster war feucht an diesem Tag und dort, wo die Reinigungstrupps eine Stelle ausgelassen hatten, von rotgelbem Laub bedeckt. In der Fußgängerzone herrschte ein ameisenartiges Gewimmel. Die Menschen hasteten von einem Geschäft ins nächste, stopften Waren in Tüten, schleppten, sich in wirren Kolonnen vorwärtsbewegend, ihre Beute in den Bau.

Auf Höhe der Goethestraße blieb ich an einem Klapptisch stehen, auf dem mehrere Stapel Bücher ausgebreitet lagen. Dahinter hatten sich fünf Männer in einer Reihe postiert. Vier von ihnen hatten dichte, hübsche Bärte, die wie schwarze Stalagmiten von ihren Unterkiefern herabwuchsen. Einer war fast noch ein Kind. Er hatte zarte, karamellfarbene Haut, auf der noch nicht mal ein Flaum zu sehen war. Sie alle trugen eine Art Uniform – einen weißen, dünnen Plastiküberzieher, unter dem sich ihre Jacken abzeichneten. Darauf stand: „Lies!“ Erwartungsvoll und irgendwie feierlich sahen sie mich an. 

Die „Lies!“-Männer grüßten. Ich grüßte zurück. Dann reichten sie mir eines der in Plastikfolie eingeschweißten Bücher und empfahlen mir, es zu lesen. Es sei ein Geschenk. Auf dem Einband stand: „Der edle Qur’an: Die ungefähre Bedeutung in deutscher Sprache“. Ich bedankte mich sehr. Demonstrativ blätterte ich ein wenig darin herum und lobte, was ich sah. Die Seiten waren durchscheinend und dicht bedruckt. Die Männer nickten wissend und begannen, wie auf ein unsichtbares Kommando auf mich einzureden. Sie erzählten mir von den fünf Säulen des Islam, der unübersetzbaren Schönheit der Suren, dem frühen Morgen, wenn das erste Gebet beginnt. 

„Ist es nicht furchtbar anstrengend, fünfmal am Tag zu beten?“, fragte ich.
„Ach was“, antwortete einer von ihnen. „Es dauert doch nur fünf Minuten. Man gewöhnt sich daran.“ 
„Muss man Arabisch lernen, um Muslim zu werden?“ 
„Nein, nein, das bisschen Arabisch lernt man an einem Tag.“ 
Ein älterer Araber drängte sich nun zwischen die jüngeren „Lies!“-Männer und erklärte lächelnd: „Hören Sie, jeder Mensch auf der Welt ist Muslim. Die einen wissen es schon und die anderen eben noch nicht. Islam ist die wahre Religion.“ 
„Ich bin also auch Muslim?“, fragte ich erstaunt. 

Ich hatte noch nie in meinem Leben einen richtigen Gott gehabt. Über den Islam wusste ich nicht viel. Natürlich hatte ich den großen Roman „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq gelesen, der von der Zukunftsvision eines muslimischen Frankreich handelt. Der Glaube war darin etwas wahnsinnig Kultiviertes. Er machte alle Menschen glücklich und reich. Meine praktische Erfahrung beschränkte sich auf eine Iranreise, vor ein paar Monaten hatte ich dort einen wunderschönen Schrein besucht. Er hieß Schah Tscheragh und war im Inneren bis in die Kuppel hinauf mit Millionen zerbrochener Spiegelstücke ausgekleidet, in denen sich das Licht wie in einem Meer aus Discokugeln brach. Dort spielten sich damals verrückte Dinge ab. Manche Männer schliefen, andere liefen herum und riefen unverständliche Parolen, wieder andere brabbelten und halluzinierten, sie verdrehten die Pupillen so sehr, dass nur noch die weiße Augenhaut zu sehen war. Die entrückte Stimmung der Pilger hatte mich stark an gewisse Szenen auf Technopartys erinnert. Mithilfe ihrer Religion, so schien es mir, zelebrierten die Gläubigen eine wilde, homoerotische Brüderlichkeit. 

„Ja, ja, natürlich. Sie sind Muslim“, versicherte der Araber mir. „Sobald Sie dies bezeugen, steht der Weg ins Paradies Ihnen offen. Das können Sie später tun… oder gleich hier.“

Kurz darauf war es um mich geschehen. Ein Gymnasiast, vielleicht 18 Jahre alt, noch mit Zahnspange im Mund, zog mich in eine Seitenstraße. Er streifte sich seine „Lies!“-Uniform ab und erklärte: „Am Anfang ist es hart. Sie dürfen zum Beispiel keinen Alkohol mehr trinken und kein Schweinefleisch mehr essen. Das ist aber nicht schlimm. Im Paradies wartet ein Fluss aus Alkohol auf Sie.“
„Es schadet doch nichts, wenn ich es einmal ausprobiere?“, fragte ich zögerlich. „Nein, absolut nicht“, versicherte mir der Gymnasiast. 
„In Ordnung“, sagte ich dann. 
Er bat mich nun, den rechten Zeigefinger himmelwärts auszustrecken. Ich gehorchte. 
„Sprechen Sie mir nach: Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Mohammed der Gesandte Allahs ist.“ 
„Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah…“, sagte ich. 
„Und jetzt auf Arabisch: Aschhadu an laa ilaha illa’Llah wa aschhadu anna Muhammadan rasulu’Llah.“
„Aschadu… an laa… ilaha…“, wiederholte ich stockend. 
Die Erde bebte nicht, die Wolkendecke riss nicht auf, keine Feuerbälle regneten vom Himmel herab. Im Hintergrund begann ein Straßenmusiker auf einer Art Schalmei zu spielen. Das war alles. Noch mehr Menschen mit noch mehr Einkaufstüten gingen vorüber. Niemand hatte es bemerkt.

„Willkommen im Islam. Das sind deine neuen Brüder.“ Der Gymnasiast umarmte mich. Mir wurde flau, ich taumelte zurück zum Infostand. Die anderen „Lies!“-Männer kamen auf mich zu. Auch sie waren auf einmal total herzlich zu mir. Jeder Einzelne drückte mich exakt drei Mal an seine Brust. Manche von ihnen säuselten mir Worte auf Arabisch ins Ohr. Der alte Araber murmelte irgendetwas, von dem ich nur die Wörter „Herz“ und „Licht“ verstand. Dann hielt er mich fest und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Und weißt du, was DAS TOLLSTE ist?“, fragte er. „DAS TOLLSTE ist: Alles, was du früher gemacht hast, zählt nicht mehr. Deine Sünden sind egal, alles ist weg. DU BIST JETZT NEU!“ Die Männer klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Sie waren so superglücklich. Und weil sie so superglücklich waren, war ich es auch. 

II
Die Einladung zum gemeinsamen Nachmittagsgebet mit den „Lies!“-Männern auf dem Pflaster der Fußgängerzone schlug ich aus. Es war doch arg schnell gegangen. Ich genierte mich noch. Trotzdem beschloss ich, mein neues Leben ernst zu nehmen. Ich wollte ein guter Muslim sein. Gleich auf dem Nachhauseweg traf ich erste Vorkehrungen. Ich sammelte Informationen über meinen neuen Glauben, die wahre Religion. Außerdem lud ich mir mehrere islamische Programme für mein Telefon herunter. Praktische Hilfsmittel wie einen Gebetskompass, einen speziellen Muezzinwecker und einen virtuellen Koran. 

Mit der nächsten Säule des Islam wollte ich sofort beginnen. Die sogenannte Zakat schien mir sowieso kinderleicht zu sein. Eine Abgabe von zweieinhalb Prozent des Einkommens für wohltätige Zwecke war von nun an für mich Pflicht. Ich hob also ein wenig Geld ab und verschenkte es. Anders als früher, als ich mein Kleingeld nur spärlich und nach einem fragwürdigen Sympathiepunktesystem vergeben hatte, war ich nun großzügig. Kein Bettler wurde mehr ausgelassen. Der Erste, den es traf, war ein alternder Punk mit ausgebleichtem Irokesenhaarschnitt, der neben einem dahinsiechenden Hund stand und Leuten die Tür zur Bank aufhielt. Die Nächste war eine Straßenzeitungsverkäuferin aus Rumänien. Es folgte ein runzliger Mann, der einen grauweißen Bart hatte wie der Nikolaus und apathisch auf den Treppenstufen des U-Bahn-Eingangs saß. „Sehr freundlich“, nuschelte er, als ich eine Zwei-Euro-Münze in seinen Pappbecher fallen ließ. Die Zakat gefiel mir wirklich gut. Ich fühlte mich beinahe reicher als früher, obwohl ich doch eigentlich Geld verlor. 

Als ich mein Pensum erfüllt hatte, schlenderte ich noch ein wenig durchs arabische Viertel und sah mir dort die Läden an. Aus den Shisha-Bars quoll weißlicher Dampf, der zuckrige Duft chemischer Tabakaromen lag in der Luft. In der Nähe von Al-Aqsa-Entrümpelungen entdeckte ich das Bekleidungsgeschäft Fashion Oase und ging hinein. Während ich verschiedene interessante Mützen und Hüte aufprobierte, unterhielt mich der Besitzer mit Verschwörungstheorien. Er war ein trauriger Glaubensbruder aus Bosnien, Kriegsflüchtling, in Deutschland aufgewachsen, natürlich auch dankbar für alles, aber er fühlte sich, sagte er, dennoch nicht am richtigen Ort. Putin konnte doch nicht anders, als sich die Krim zu klauen, erläuterte der Bosnier. Er sei doch vom Westen umzingelt gewesen. Der Islamische Staat sei nur ein von den USA erfundenes Konstrukt. Die deutschen Medien verbreiteten nichts als Propaganda. Baumwolle sei in Wahrheit übrigens viel schlechter als Synthetikstoff. Schließlich entschied ich mich für eine rote Kappe aus echtem Filz. Sie ähnelte einem Fez, doch war sie runder und anschmiegsamer als das osmanische Original. Die Kappe, fand ich, verlieh mir eine angenehme Strenge. Sie passte zu meiner neuen Persönlichkeit. 

Der Bosnier führte mich durch seinen Laden. Er zeigte mir weite, wallende Gewänder aus Ägypten und Pakistan. „Die meisten Leute wissen nicht, dass unser Prophet von Männern und Frauen eine Verhüllung verlangt hat“, erklärte er.
„Männer müssen sich auch verschleiern?“, fragte ich verblüfft. 
„Nein, nicht direkt verschleiern. Aber eigentlich müssen Männer Gewänder wie dieses hier tragen“ – er zeigte auf eine Art Kleid, das mit schönen Stickereien verziert war –, „das Oberteil muss über die Knie reichen. Das hat unser Prophet gesagt.“ 
Als ich ihn fragte, warum er dann eine Jeans trage, rollte der traurige Bosnier die Augen, als hätte ich etwas sehr Dummes gesagt. „Nur jemand, der sehr stark im Glauben ist, geht mit so einem Gewand auf die Straße. Schau, ich habe einen langen schwarzen Bart und bekomme deswegen schon genug Probleme. Ständig sprechen mich die Leute an, ob ich nicht ein Terrorist bin. Der Islam ist eine friedliche Religion. Warum verstehen das die Menschen nicht?“ 
„Selbstverständlich ist der Islam eine friedliche Religion“, stimmte ich zu und ging zur Kasse, um zu bezahlen. Auf dem Tresen entdeckte ich eine Schale mit Holzstücken. 
„Das ist der Siwak“, erklärte mir der Bosnier. 
„Was macht man damit?“
„Zähne putzen, darauf kauen.“
„Auf einem Stück Holz?“ 
„Das ist ein Ast vom Zahnbürstenbaum aus Pakistan. Er reinigt die Zähne besser als eine moderne Zahnbürste. Alle Propheten haben ihn benutzt.“ 
„Jesus auch?“
„Natürlich auch Jesus“, antwortete der Bosnier. „Jesus war ein Prophet. Er hat sich die Zähne mit dem Siwak geputzt.“

III
Kaum war ich zu Hause, schrillte mein Telefon. In meiner Hosentasche erklang der Ruf eines Muezzin. Ich hatte den Siwak noch nicht einmal ausgepackt und musste schon zu meinem ersten Gebet. Hastig wusch ich mir die Hände, dann die Füße und das Gesicht. Reinheit, hatte ich gehört, war äußerst wichtig im Islam. 
Im Schlafzimmer rollte ich meine Yogamatte aus, peilte mit dem Telefon Mekka an und stellte mich in die vorgeschriebene Richtung auf. Ich bemühte mich, ruhig zu atmen und meine Gedanken zu einem Strahl zu bündeln. Während ich mir innerlich den Allmächtigen näherzubringen versuchte, starrte ich den weiß lackierten, etwa 50 Zentimeter vor mir aufragenden Türrahmen an. Bald zerstob die Konzentration und machte folgendem Gedanken Platz: Was nun? 

Hilflos murmelte ich: „Allah ist groß“, und verneigte mich kurz. Dann setzte ich mich und machte die klassische Demutsgeste, die man aus amerikanischen Fernsehserien kennt. Ich beugte meinen Oberkörper so weit nach vorne, dass die Stirn den Boden berührte. Anschließend richtete ich mich auf und blätterte ein bisschen im Koran. Zu meinem Erstaunen war das Buch vollkommen ohne Struktur. Um den Inhalt nicht zu verfälschen, hatten die Gelehrten die Texte mehr oder weniger nach der Länge arrangiert. Ich las mich quer durch einige Suren und Verse. Sie handelten von Bienen und Engeln, von der Auferstehung der Toten am Tag der Apokalypse und von Gottes schlimmem Zorn. 

So wirklich glücklich war ich allerdings nicht mit meinem Gebet. Es hatte sich nicht richtig angefühlt. Zerknirscht schaute ich mir daraufhin einige Anleitungen im Internet an. Der jüngste der „Lies!“-Männer (derjenige, der eigentlich noch ein halbes Kind gewesen war), hatte mir die Videos des deutschen Predigers Pierre Vogel empfohlen. Über diesen Pierre Vogel hatte ich bislang eigentlich nur Schlechtes gehört. Er strebte offenbar eine orthodoxe Urzeitgesellschaft an und hatte angeblich schon reihenweise einsame Jugendliche dazu inspiriert, in den Heiligen Krieg zu ziehen. Trotzdem waren seine Videos besser, als ich vermutet hatte. Sie waren sogar richtig gut. In rheinischem Singsang erläuterte Pierre Vogel jedes Mikrodetail des Gebets. Es fing damit an, dass man einen Gegenstand vor sich aufstellen musste, um sein Gebiet zu markieren. Auch spezielle Körperhaltungen waren penibel einzuhalten. Laut gesprochene Formeln begleiteten den Bewegungsablauf. 

Ich hatte das Video, das natürlich wahnsinnig lange dauerte, weil es so schrecklich detailliert war, noch nicht einmal zu Ende gesehen, als wieder der Muezzin in meinem Telefon rief. Es war kurz nach 18 Uhr. Das Nachtgebet stand an. Ich wusch mich erneut und schaltete in meiner Verzweiflung einfach ein anderes Internetvideo an. Ein bärtiger, ernster Mann in einem schwarzen Kaftan, eine Art menschlicher Schatten, erschien auf dem Bildschirm und nahm eine komplizierte Serie weihevoller Körperhaltungen ein. „Subhanaka alla humma wa binamdik wa tabarakismuk“, sagte eine Stimme aus dem Off. „Subhänakala humma wahummnik“, wiederholte ich. Ich ahmte den Mann nach, so gut ich konnte. Ich hob meine Hände zu den Ohren, achtete auf die korrekte Beinstellung und darauf, dass mein Rücken in der Verbeugung gerade war. Ich warf mich nieder auf den Boden. Ich nahm eine zusammengekrümmte Sitzhaltung ein und fuhr meinen rechten Zeigefinger aus wie eine zuckende Antenne, die kosmische Signale empfängt. Immer wieder versuchte ich die arabischen Worte nachzusprechen, doch meistens war die Stimme aus dem Off einfach zu schnell. Das Gebet war endlos, es hörte gar nicht mehr auf. 

Allmählich dämmerte mir, dass ich womöglich von den „Lies!“-Männern reingelegt worden war. Ohne Arabisch zu lernen gab es kein Durchkommen in dieser Religion. Die Gebete dauerten auch keine fünf Minuten, wie man mir gesagt hatte, sondern eine halbe Stunde oder mehr. Hochgerechnet auf den ganzen Tag waren das mindestens zweieinhalb Stunden Netto-Gebet. Und das beinhaltete noch nicht einmal das Lesen des Korans. Frustriert klappte ich den Computer zu. Es musste doch auch anders gehen. 

In den nächsten Tagen arbeitete ich hart an mir. In dem Büro, in dem ich meinen traurigen Alltag als kleiner Angestellter fristete, okkupierte ich einen leer stehenden Raum und widmete ihn zum Gebetszimmer um. In Richtung eines vergilbten ISDN-Kästchens mit der Aufschrift „COMmander Basic“ warf ich mich nun täglich nieder. Ich probierte es immer wieder, so lange, bis ich eine katzenhafte Eleganz in den Bewegungen entwickelte. Ich spielte, statt mein Fantasiearabisch zu deklamieren, wunderschöne Originalrezitationen einzelner Koranverse auf meinem Telefon ab, murmelte parallel die deutsche Übersetzung und fügte, wenn ich fertig war, noch einige kraftvolle und dynamische Yogaübungen an. Es zeigte Wirkung. Mit der Zeit ging es aufwärts, ich wurde immer besser darin. Selbst das Morgengebet, das um kurz nach fünf zu verrichten war, gelang mir ab und zu. Auch das ständige Waschen wurde Teil meines Alltags, besonders die Sauberkeit meiner Füße gefiel mir gut. Meine Tage wurden durch die Gebete strukturiert. Eine gewisse Klarheit breitete sich in mir aus. Und ich spürte allmählich so etwas wie eine zarte Verbindung zwischen mir und dem großen Verzeiher, dem Glorreichen, dem, der das Feinste in allen Dimensionen erfasst. Insgesamt 99 schöne Namen, lernte ich, gibt es für Allah. 

Auch intellektuell ging es voran. Ich tauchte tiefer ein in die wahre Religion. Der Koran bestand aus mehr als Lobpreisungen und Androhungen von Höllenqualen. Er war ein Buch der Entsagungen. Viele Suren kritisierten das Zusammenraffen von Reichtümern und warben dafür, das Geld zu teilen. Der technologische Fortschritt, auf den die Ungläubigen so große Stücke halten, las ich an anderer Stelle, sei nichts weiter als eine Fata Morgana, „Luftspiegelungen in einer Ebene, die der Durstige für Wasser hält“. Hatte ich nicht sowieso vorgehabt, dem sinnlosen Profitstreben abzuschwören? Ärgerte ich mich nicht schon lange über amerikanische Internetmilliardäre und ihre grässlichen Erfindungen? Oft dachte ich nach dem Gebet an meine Reise durch den Iran. An die Schönheit menschenleerer Wüstenlandschaften. An Kamelritte, köstliche Datteln und Palmen. Und auch an die seltsamen Hautfresserfische, die in hungrigen Schwärmen durch die Kanäle einer Oase flitzten und darauf lauerten, dass ein Mensch seinen Fuß zu ihnen ins Wasser hielt. 

IV
Doch die Tage der Leichtigkeit währten nicht lang. In meinem Übermut nahm ich wieder Kontakt zu den „Lies!“-Männern auf, berichtete von meinen Erfahrungen und wurde böse enttäuscht. Es war alles falsch, erfuhr ich von dem Gymnasiasten. Nichts richtig. Kein einziges meiner bisherigen Gebete war gültig gewesen. Ich hatte es verbockt. Erstens bestand Allah, der Allerbarmer und Urewigliche, auf der strikten und yogafreien Einhaltung der Gebetsbewegungen. Zweitens verstand er, was mir niemand plausibel erklären konnte, nur Arabisch und kein Deutsch. „Es ist ganz normal, dass man am Anfang Fehler macht“, schrieb mir der Gymnasiast und schickte ein Video von einem absolut korrekt durchgeführten Gebet in irgendeiner ägyptischen Moschee hinterher. 

Es begann die schwerste Zeit, doch aufgeben wollte ich nicht. Ich kämpfte darum, ein guter Muslim zu sein. Ich musste das freie Denken einstellen, mich vollständig unterwerfen, eine andere Lösung gab es offenbar nicht. Als erstes Zeichen meiner Buße kehrte ich ins Geschäft des Bosniers zurück. Bei Fashion Oase kaufte ich mir ein wallendes Gewand und auch einen neuen Hut, der mich aussehen ließ wie ein Bergfürst aus Afghanistan. Ich begann den Siwak intensiver zu nutzen. Ich biss die Rinde herunter, kaute das Holz weich und schrubbte meine Zähne, wie es die Propheten vor Jahrhunderten getan hatten, mit den bitzelnden Fasern des Zahnputzbaums. Ich gehorchte den Anleitungen von Pierre Vogel und dem Mann im schwarzen Kaftan. Ohne genau zu wissen, was es bedeutete, hämmerte ich mir arabische Gebetsformeln in den Kopf. Mit Inbrunst deklamierte ich nun in dieser nachgeahmten Sprache mithilfe eines Spickzettels meine Gebete, fünf Mal am Tag in Richtung Mekka, exakt so, wie es vorgeschrieben war. 

Doch die Entwicklung, die ich in dieser Zeit nahm, war nicht wirklich gut. Eigentlich gab es da nichts schönzureden: Es war stumpfes Auswendiglernen, das Unspirituellste und Stupideste, was ich je getan hatte. Ich war kein Roboter, so funktionierte ich einfach nicht. Vor lauter Beten kamen nicht einmal mehr meine Koranstudien voran.

In meiner Verzweiflung erwog ich, das Problem einfach zu ignorieren und schon mal zur nächsten Säule meines neuen Glaubens überzugehen. Ich rief in einem Reisebüro für „Islamische Momente“ an. Etwas mehr als 4.000 Euro verlangte eine Dame am Telefon für die Pilgerfahrt nach Mekka, das war nicht wenig, aber machbar war es schon. Ich stellte mir mein Leben als Hadschi vor. Ich würde mich in ein weißes Tuch hüllen und nach Saudi-Arabien fliegen. Dort würde ich mich von einem endlosen Strom aus Glaubensbrüdern mitreißen lassen, den Kaaba-Würfel siebenmal gegen den Uhrzeigersinn umkreisen und bei jeder Umkreisung den Schwarzen Stein küssen. Danach würde ich Kiesel sammeln und sieben davon auf eine Säule schmeißen, was den Teufel vertrieb. Ich solle mich im Januar melden, sagte die Dame aus dem Reisebüro. Dann bräuchte sie nur noch ein formloses Empfehlungsschreiben von einem Imam, dazu ein paar Impfungen, und wenn mit dem Visum alles klappte, wäre ich dabei. 

Auch die letzte Säule, das Fasten, probierte ich aus. Es war, so hatte ich erfahren, durchaus nicht unüblich bei Anhängern der wahren Religion, auch außerhalb des Ramadan an Montagen und Donnerstagen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang freiwillig nichts zu essen und zu trinken. So hatte es schon der Prophet gemacht. Die Tage meiner Askese verliefen flirrend und qualvoll. Mir krampfte der Magen, mein Mund trocknete aus, ich schwebte durch den Alltag wie auf einem unangenehmen Amphetamin. 

Ein paar Mal besuchte ich auch ein Glaubenshaus. In einer Hinterhofmoschee, die direkt neben einem räudigen Straßenstrich lag, belehrte uns ein strenger Imam. Er schärfte uns ein, keinen Frauen, die nicht unsere Ehefrauen waren, die Hand zu geben, weil sich dadurch sexuelle Triebe entladen könnten. Er schimpfte auf die bunten Kopftücher und die eng anliegenden Kleider unserer Glaubensschwestern. Und er sagte irgendwann auch ein paar schöne Dinge wie: „Das Herz eines Menschen zu zertrümmern ist schlimmer, als die Kaaba in Mekka zu zerstören. Die Kaaba ist aus Stein. Man kann sie wieder aufbauen. Das Herz eines Menschen aber nicht.“ Als wir anschließend Tee tranken, verriet er mir ein Geheimnis. Es war sicher kein Zufall, dass die „Lies!“-Männer in der Goethestraße und nicht in der Schillerstraße auf mich gewartet hatten. Goethe, sagte der Imam, sei wahrscheinlich Muslim gewesen. Auf seinem Sterbebett habe er beim letzten Atemzug eine Handbewegung gemacht, die einem W geglichen habe, was als das arabische Zeichen für Allah zu deuten war.

Mystischer ging es in einer altehrwürdigen und aufwendig verzierten Moschee im Stadtzentrum zu. Hier belauschte ich ein Gespräch zwischen einem Korangelehrten und einem offenbar verrückten deutschen Mann, der ein Kopftuch trug. Der Gelehrte sprach über Sterne und Körperzellen, die Zeichen Allahs in der Natur. „Jede Zelle ist anders, alles entsteht aus einer“, sagte er. „Menschliches Leben auf der Venus ist nicht möglich“, antwortete der Deutsche. „Auf dem Mars soll es hingegen bald Raumstationen geben. Man weiß gar nicht, was noch alles auf dem Mars passiert.“

V
Um härter zu trainieren, verabredete ich mich auch einmal mit den „Lies!“-Männern zum Gebet. Wir trafen uns im Norden der Stadt. Die Moschee befand sich in einem ehemaligen Geschäft, dessen Schaufenster zugeklebt waren. Die Wände des Gebetsraums waren schmuddelig, das Licht kam von nackten Neonröhren. Alle waren wieder total freundlich zu mir. Aber es war trotzdem die heruntergekommenste Moschee, die ich in meinem Leben gesehen hatte, es gab keinerlei Schönheit oder Schmuck in ihr. Ganz nebenbei erfuhr ich hier auch, dass meine letzten Gebete ebenfalls ungültig gewesen waren. Ich hatte meine Nase bei der rituellen Waschung nämlich nicht ausgespült, nicht auf die korrekte Verwendung von rechter und linker Hand geachtet und sowieso nicht jede Bewegung dreifach ausgeführt. Ich war unrein gewesen. Mein Wudu, so nannte man das, hatte nicht funktioniert.
Der Gymnasiast und ein junger Iraker, der einen prächtigen dunkelschwarzen Vollbart trug, holten ein Buch aus dem Regal. Es hieß „Die Gärten der Tugendhaften Band 2“ und enthielt Hadithe, Überlieferungen über die Lebensweise des Propheten. Wir blätterten gemeinsam durch dieses Buch und erörterten die knifflige Frage, warum ausgerechnet nach dem Verzehr von Kamelfleisch eine erneute rituelle Waschung notwenig war. Es standen sicher tausend solcher Regeln und Gesetze in den „ Gärten der Tugendhaften Band 2“. Als ich hörte, dass es offenbar noch sieben weitere Bände gab, wurde mir schlecht. Es schien mir unmöglich zu sein, alles so zu machen, wie es gefordert war. 

„Unser Prophet hat im Leben für uns schon vieles einfacher gemacht“, sagte der Iraker. 
„Ich finde es ehrlich gesagt ziemlich schwer“, erwiderte ich. 
„Ursprünglich waren 50 Gebete am Tag Pflicht, doch der Prophet hat sie für uns auf fünf reduziert, von denen jedes den Wert von zehn Gebeten hat.“ 
„Das kann man so genau ausrechnen?“
„Sicher. Das Gebet in der Moschee zählt zum Beispiel 27-fach so viel wie ein Gebet zu Hause“, erklärte der Iraker. 
„Also 270-fach“, ergänzte ich matt. 

Der Gymnasiast und der Iraker übten eine Stunde Gebete mit mir, doch ich konnte mir, vom Allahu Akbar einmal abgesehen, immer noch kaum etwas Arabisches merken, die Anwesenheit von Profis verunsicherte mich. Meine Glaubensbrüder rieten mir, beim großen gemeinschaftlichen Nachtgebet, das wir in einer Reihe aufgestellt, Fußsohle an Fußsohle und Schulter an Schulter verrichteten, nur die Bewegungen nachzuahmen und ansonsten still zu sein. Ich war ein schlechter Muslim. Mir fehlte das Talent. Der Islam, den ich zu praktizieren begonnen hatte, hatte so gar nichts von der feinsinnigen Welt, die Michel Houellebecq in „Unterwerfung“ beschrieben hatte. Ich kam mir vor wie eine Figur in einem trostlosen Computerspiel. Selbst wenn ich noch zusätzliche Bonuspunkte durch freiwilliges Fasten oder Bittgebete sammelte, würde ich es niemals ins nächste Level schaffen. Im Rennen um einen Platz im Paradies lag ich einfach schon zu weit zurück. 

VI
Als der Abend kam, an dem in Paris ein paar junge Männer 130 Menschen mit Schnellfeuergewehren töteten und sich danach teilweise selbst die Luft sprengten, war ich schon längst nachlässig geworden. Ich betete so gut wie gar nicht mehr. Ich schrieb dem Gymnasiasten von den „Lies!“-Männern noch einmal, ob es nicht schrecklich sei, dass so etwas im Namen des Islam geschah. Der Gymnasiast antwortete genervt, er interessiere sich eigentlich nicht für Politik. Fünf Tage später schickte er mir eine aufgewühlte Sprachbotschaft hinterher. Es war eine fantastische Gesamtrechung über alle Toten dieser Welt. Der Gymnasiast behauptete: Die Amerikaner hätten eine Million Kinder bei ihrem Einmarsch in den Irak massakriert. Die Franzosen 1,8 Millionen Algerier auf bestialische Weise umgebracht. Die NATO allein in der ersten Woche ihres Krieges 250.000 Afghanen erschossen. Außerdem würden in Myanmar noch heute Muslime bei lebendigem Leib verbrannt. Und da solle er über 130 Leute in Paris trauern? Das sei doch ein Witz. 

VIIIch hielt es für sinnvoll, meinen neuen Glauben dort abzugeben, wo ich ihn angenommen hatte. Zwei Wochen später, an einem Samstagmittag, kehrte ich noch einmal in die Fußgängerzone zurück. Es war kalt geworden, der Winter hatte begonnen, eine Art Schneematsch fiel vom Himmel herab. Er formte weiße Häubchen auf den Dächern und zerfloss zu Pfützen, sobald er mit dem Boden in Berührung kam. Meine Wangen waren eingefallen. Ein struppiger, düsterer, irgendwie unansehnlicher Bart wucherte in meinem Gesicht. Zwischen den seelenlosen Einkaufsfilialen internationaler Großkonzerne hatte jemand ein Labyrinth aus hölzernen Bratwurst- und Glühweinbuden aufgebaut. Ich erkannte die Fußgängerzone kaum wieder, es war wie in einem bösen Traum. Ich hastete von einem Ende zum anderen und hielt Ausschau nach dem Infostand. Mehrmals machte ich die Runde. Immer wieder blieb ich verwundert auf Höhe der Goethestraße stehen. Nun stand dort, wo die „Lies!“-Männer sich angeblich jede Woche versammelten, um der wahren Religion zu dienen, ein giftgrüner Plastikweihnachtsbaum. Er war turmhoch und hatte ein aggressiv funkelndes Lichtprogramm. Ich beschloss, auszuharren. In der Back-Factory zapfte ich mir einen billigen Selbstbedienungscappuccino und setzte mich auf einen Platz am Schaufenster. Ich wartete ab, ob vielleicht nicht doch noch etwas geschah. Dann blätterte ich durch meinen Koran, überflog ein paar Suren, blieb aber nirgendwo hängen, mir fehlte die Konzentration. Stattdessen fiel mein Blick auf den Pappbecher in meiner Hand. „Ich war beim Snack-Profi“, stand darauf. Ich fühlte mich ein bisschen leer und dumm in diesem Moment, aber irgendwie war ich auch froh, wieder allein zu sein. Am Nachmittag schrieb ich dem Gymnasiasten eine Nachricht. Ich sagte ihm, ich hätte es mir anders überlegt. Ich formulierte es höflich und dankte ihm für Alles. Er antwortete mir nicht.

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