Pack die Badehose aus

Da möchte man selbst als Hetero in eine Zeitmaschine steigen und sich durchvögeln lassen: Auf Fire Island gab es in den 70ern eine ziemlich vergnügte Gay Community. Die Polaroids von Tom Bianchi beweisen es. Von Felix Denk

Am Hafen ging immer was ab. Im Blue Whale zum Beispiel, wo sonntags zum Tea Dance die besten DJs aus der New Yorker Clubszene auflegten. Der Supermarkt daneben war auch berühmt, als Cruising Spot. Und wenn die Fähre anlegte und noch mehr muskelgestählte, partyhungrige Männer in die sandige Parallelwelt 57 Kilometer vor New York brachte, war das jedes Mal ein Großereignis. Da kam schon mal die halbe Insel vorbei und schaute, wer so ausstieg. 
Im Christentum und im Islam mag das Paradies ein Garten sein, für die amerikanische Schwulenbewegung war es eine Insel. Fire Island, 48 Kilometer lang, einen Kilometer breit und südlich von Long Island gelegen, war der wahrscheinlich hedonistischste Ort der an Ausschweifungen nicht eben armen 70er-Jahre. 
Man wüsste viel weniger über diese schwule Enklave, wäre da nicht Tom Bianchi gewesen. Er ist das visuelle Gedächtnis von Fire Island. Mitte der 70er-Jahre arbeitete er als junger Anwalt bei Columbia Pictures. Als ihm eine Polaroidkamera in die Hände fiel, begann er seine Freunde zu fotografieren, mit denen er die Sommerwochenenden auf Fire Island verbrachte. Die Sofortbildkamera sollte sich als ideal erweisen. Nicht nur, weil die Bildästhetik die Fotos wie gemalt aussehen ließ, sondern weil man die Bilder gleich anschauen konnte und die Fotografierten Bianchi nach und nach ihr Vertrauen schenkten. Auf den Polaroids tritt etwas ans Licht, das im Rest der Welt gut versteckt werden musste. Schließlich war Schwulsein zu dieser Zeit etwas Heimliches bis Gefährliches. 
Die Sommertage, die Bianchi fotografierte, folgten einem steten Rhythmus. Das An- und Ausziehen der engen Speedo-Badehosen gab den Takt vor. Wer nicht gerade tanzt, liegt in der Sonne, schwimmt im Atlantik oder hat Sex in irgendeiner Hängematte. Die Party-Crowd, die im Sommer Wochenende für Wochenende aus New York kam, zog erst ab, wenn im Herbst die Gänse nach Süden flogen und die Schmetterlinge in den Dünen starben, wie es der Schriftsteller Andrew Holleran in seinem Disco-Roman „Dancer from the Dance“ bittersüß formulierte. Dann überwinterte die Szene in den New Yorker Clubs wie im Le Jardin oder im The Saint. 
Letzterer Club sollte bald traurige Berühmtheit erlangen. Als eine neue, rätselhafte Krankheit von Los Angeles nach New York gelangte und erste Todesopfer forderte, wurde sie auch „Saints Disease“ genannt. Als Aids explodierte, wurde Fire Island zum Ground Zero der Gay Community. Nicht weniger als eine Welt ging da qualvoll zu Ende. Die Party war vorbei. Und jedes Jahr, wenn die Saison wieder anfing, fragte man sich, wer alles nicht mehr kommen würde. Ohne es ahnen zu können, dokumentierte Bianchi mit seinen Polaroids die erste Generation schwuler Männer, die an Aids starben. Es sollten ausgerechnet die Gym-gestählten, kraftstrotzenden Adonisse sein, die als Erste von der Immunschwächekrankheit dahingerafft wurden. 
Bianchi selbst hatte da seinen Anwaltsjob schon an den Nagel gehängt, wurde Aktfotograf und gründete eine Biotech-Firma, die Medikamente gegen die Krankheit erforschte. Seine Bilder von Fire Island, die Ende der 70er-Jahre niemand veröffentlichen wollte, hielt er lange in einem Schuhkarton verschlossen. Zu viele traurige Erinnerungen. Erst 2013 erschienen sie schließlich als Buch.

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