Der Dreck und die Liebe

Diese Familie bringt das Jugendamt an seine Grenzen

Von Steffi Unsleber

Zuallerst sagt der Mann vom Jugendamt: Der Wohnort und die Namen müssen geheim bleiben. Denn die Familie ist bekannt hier, und die Nachbarn sollen nicht all die schmutzigen Details erfahren, die sie sich bis jetzt nur zusammenreimen. 
Nur so viel: Der Ort liegt im Osten Deutschlands, neben einer großen Stadt, und er ist recht wohlhabend. Steigt man an einem Freitagmittag aus der Bahn, begleiten einen Schulkinder auf der trichterförmigen Betontreppe Richtung Innenstadt. Im Café nebenan werden große Schalen voller Eiskugeln serviert. Es gibt ein Schloss hier und einen großen Park dazu. Sonst nicht viel. Hier lebt man solide. Geordnet. 


Die Melzigs wohnen dort, wo die Fußgängerzone aufhört. Direkt an der Hauptstraße. Das Haus wirkt schäbiger als das der Nachbarn, die Fassade ist ganz angegraut. Hinter dem Haus steht eine Filiale von Aldi Nord.


Annika Melzig war eben noch dort, Zucker holen. Sie hat etwas Geisterhaftes, wie sie da im Zentrum der ruhigen Kleinstadt steht. Mit einem roten Sweatshirt und einer Jeans, die sich an ihrem Körper beult. Wellige hellbraune Haare, die auf ihre Schultern hängen. Augen, die abwesend wirken, trotz ihrer besorgten Mütterlichkeit. Das Gesicht einer 50-Jährigen, obwohl sie noch nicht einmal vierzig ist. Nur manchmal, wenn sie lacht, sieht sie aus wie zwanzig.


Die Familie wohnt im Dachgeschoss. Die Tür ist schmierig und deutet an, was dahinter liegt: warme, dicke Luft. Rauch und Schweiß und etwas wie saure Milch. 


Der Fußboden ist an manchen Stellen so bedeckt mit Zeug, dass es schwierig ist, Einzelnes zu identifizieren. Sichtbar sind nur Oberbegriffe: Lumpen, Kartons, Müll. Die Küche ist eine einzige Rumpelkammer, voller Müllhaufen, der Herd schwarz verkrustet, die Fliesen verschmiert. Unter der Anrichte türmen sich Kleiderhaufen. Ist das Müll? Schmutzwäsche? Ein ausgelagerter Kleiderschrank? 


Im Wohnzimmer eine Couch, die schräg mitten im Raum steht. Patrick sitzt dort und spielt mit dem Handy, seine zwei jüngeren Brüder sitzen vor dem Flachbildfernseher. Der jüngste, der sechsjährige Manni, obenrum nackt, schreit und weint, als Annika Melzig mit dem Zucker in der Hand das Zimmer betritt. Ein hellbrauner Hund rennt aufgeregt durch den Raum.
„Neben der Kaffeemaschine stand doch noch Zucker!“, blafft Bernd Melzig. „Na danke“, entgegnet Annika Melzig giftig. 

Gestern hatten sie sich wieder gestritten, der Grund war schnell vergessen. Aber Bernd Melzig stand unten auf der Straße und wollte nur noch weg. Als das Adrenalin nicht mehr durch seinen Körper tobte, stieg er die Stufen nach oben, holte seine Frau in die Küche, und sie redeten. Der Ärger kommt und geht. 


Bei Melzigs läuft es immer irgendwie und irgendwie nie. Manchmal wundert man sich, dass überhaupt etwas funktioniert. Aber dann steht da plötzlich eine Kanne Kaffee auf dem Wohnzimmertisch, neben benutzten Tellern, leeren Margarineschachteln, Aschenbechern, und Annika Melzig fragt: „Etwas Milch? Oder Zucker?“ Sie selbst füllt ihre Tasse zur Hälfte mit Zucker. 


„Mensch, Annie“, sagt Bernd Melzig. Und dreht sich weg. 
Sie zuckt die Schultern. Gießt mit Kaffee auf. 


Annika Melzig ist magersüchtig. Und depressiv. Ihre Mutter starb, als sie noch ein junges Mädchen war. Sie wuchs im Heim und in einer Pflegefamilie auf. 


Bernd Melzig kam ins Heim, als er 13 war. Seine Mutter musste ihn im Schrank verstecken, damit der Vater ihn nicht fand und schlug. Wenn er sich wieder nach draußen traute, lag seine Mutter oft in einer Blutlache. 

Die alten Dateien lagern noch auf den Festplatten des Jugendamtes, es gibt dort auch noch Mitarbeiter, die Annika und Bernd Melzig seit den Achtzigern kennen, als sie selbst noch Kinder waren. Sebastian Hardenstein betreut die Familie seit 2010, er hört Loungemusik und öffnet weit die Fenster, wenn er im Büro ist. Ein junger idealistischer Sozialarbeiter. Gerade ist er selbst zum zweiten Mal Vater geworden. 

Er wollte es anders machen. Er wollte die Familie nicht auseinanderreißen, die Kinder im Dreck aufwachsen lassen, weil sie von ihren Eltern geliebt werden und weil er weiß, dass „Fremdunterbringung“, wie es in der Sprache des Jugendamtes heißt, nicht die Lösung aller Probleme ist. 


Familie Melzig hat fünf Kinder: Jessy, 18, Timm, 16, Patrick, 13, Marc, 9, und Manni, 5. Jessy und ihr Bruder Timm verpassten die U-Untersuchungen, die für alle Kinder verpflichtend sind. So wurde das Jugendamt auf die Familie aufmerksam. Damals ging Jessy mit ihren Eltern regelmäßig auf Tour, um Essen aus den Mülltonnen der Nachbarn zu klauen.


Jessy war dann auch die erste „Symptomträgerin“ der Familie. So nennt Hardenstein Kinder, die auffällig werden. Jessy bekam Diabetes, musste mehrfach mit Blaulicht ins Krankenhaus eingeliefert werden, weil sie sich absichtlich zu viel oder zu wenig Insulin spritzte. Sie fand heraus, dass sie ziemlich einfach die Schule schwänzen konnte. 


Das Jugendamt steckte Jessy in ein Internat. Und schickte Melzigs Familienhelfer vorbei. Frau Martin faltete Tag für Tag mit Melzigs die Wäsche, rauchte mit ihnen, schaute sich die Bescheinigungen an. Frau Petz half bei den Finanzen, Herr Zorn machte eine Familientherapie mit allen. 30 Stunden Familienhilfe pro Woche. Normal sind sechs Stunden oder höchstens mal acht. 


Sebastian Hardenstein hatte gehofft, dass die Familie es so schafft. Aber sie schaffte es nicht. Im Gegenteil: Die Familienhelfer stützten das System. Sie halfen mit. Und nahmen den Eltern so die Verantwortung. Sie putzten das Klo. Melzigs machten es wieder dreckig. Die Familienhelfer putzten wieder. 


Die Familie wurde immer unselbständiger. 


„Was ist das für eine Dynamik mit den Helfern, haben wir uns gefragt“, sagt Sebastian Hardenstein. „Warum schaffen es Melzigs immer wieder, dass die Helfer ihre Aufgaben übernehmen?“
Frau Melzig, schmal und müde, sagt: „Mit Frau Martin haben wir uns irgendwann so gut verstanden, dass sie mir sagen konnte, was sie wollte. Ich habe es einfach nicht gemacht.“

Währenddessen wurden die Kinder groß. Jessy verliebte und verlobte sich, zog aus in eine Wohnung mit ihrem Freund. „Aber sie hat es auch nicht so mit der Ordnung“, sagt Annika Melzig. Wenn Jessy ein Kind bekommen sollte, sind sich alle Helfer sicher: Auch sie wird mit dem Jugendamt zu tun haben. Jugendamts-Kreislauf nennen die Sozialarbeiter das. Familien, die Hilfe bekommen haben, ziehen Kinder groß, die wieder Hilfe brauchen werden. Sebastian Hardenstein hatte, als er die Familie übernahm, ein Ziel formuliert: dass wenigstens ein Kind der Familie später nicht mit dem Jugendamt zu tun hat. Das kann nach Hoffnung klingen. Oder nach Verzweiflung.


Bei Timm, dem Zweitältesten, war noch alles offen, als das mit den Familienhelfern begann. Aber es gab erste Anzeichen, dass er zum nächsten Symptomträger geworden war: Er war damals, mit 13, zum ersten Mal vom Unterricht suspendiert worden, weil er ein autistisches Mädchen drangsaliert hatte. Drei Jahre später hat er Hausverbot an seiner Schule und mehrere Anzeigen wegen Körperverletzung. Mitschüler hatten über seine Mutter gelästert, da hat er zugeschlagen. „Ich bin hier ja bekannt“, sagt Annika Melzig. Jetzt steht Timm in der Wohnung, raucht mit seinen Eltern und sagt, dass niemand seine Familie auseinanderreißen kann. 


Auch Patrick, der Drittälteste, vor einigen Jahren noch relativ unauffällig, hat jetzt Ärger in der Schule. Er malt Hakenkreuze. Ist aggressiv. Wird gemobbt. Vieles deutet darauf hin, dass er sich wie Timm entwickeln wird. 

„Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung“, so steht es im achten Sozialgesetzbuch, § 1. Was macht man im Fall der Melzigs mit diesem Satz?


Soll man die Kinder wirklich weiterhin in der Familie lassen? Kann das Jugendamt das verantworten? Hardenstein hat sich diese Frage oft gestellt. Dort, wo Lebensmittel verwesen, weil niemand bemerkt, dass der Stecker der Gefriertruhe seit Monaten raus ist, wo die Kinder kotzen, weil der Heringssalat abgelaufen war. Wo sie inmitten einer Müllhalde aufwachsen, niemals lernen, einen Haushalt sauber zu halten? Aber mit Eltern, die sie lieben?


Hardenstein versucht, die Familie so lange zu stützen, wie er kann. Aber als schließlich auch der Vater morgens nicht mehr aufsteht, im Herbst 2014, sagt Hardenstein den Eltern: Wir wollen eure Defizite nicht mehr kompensieren. Das kann immer nur vorübergehend funktionieren. Bei euch ist es ein Dauerzustand. Wir können nicht mehr. 


Hardenstein kapituliert. Er ruft das Familiengericht an. Um die Kinder in Obhut zu geben. Das heißt: raus aus der Familie. 

Jessy hat als Hintergrund ihres Facebook-Profils ein rotes Plakat gewählt, auf dem in Frakturschrift „La familia“ steht. Kurz vor der Gerichtsentscheidung schreibt sie auf ihrer Pinnwand: „Danke, Mama und Papa, dass es euch gibt…..!!!! Ich danke euch, dass ich das Leben mit euch an meiner Seite erlernen darf. Als kleines Mädchen habt ihr mich an die Hand genommen und mir den Weg gezeigt. Danke, dass ihr mir vier so wundervolle Brüder geschenkt habt. Timm Christofer Melzig!!!! bist zwar jünger als ich aber größer. Egal wie oft wir uns streiten, wir vertragen uns immer wieder, und so wurden wir auch erzogen von Mama und Papa. Weil Familie hält immer zusammen.“


Das Familiengericht entscheidet: Das Jugendamt soll sich auf die Suche machen, ob man die Familie nicht irgendwo gemeinsam unterbringen kann. 


Hardenstein glaubt nicht daran, er schämt sich fast zu fragen. Und er steht kurz vor seiner Elternzeit. Dann macht er einen Anruf bei einem Träger, der Gastfamilien vermittelt. Und etwas höchst Unwahrscheinliches passiert: Es findet sich eine Familie, die bereit ist, die Melzigs bei sich aufzunehmen. Zuerst kann es niemand im Jugendamt glauben. 


Ein Kriminalkommissar in Rente und seine Frau. Ihre Kinder sind ausgezogen – sie haben Platz, Zeit und Lust auf ein Abenteuer. Und etwas Geld gibt es auch: 440 Euro pro Elternteil und 220 Euro pro Kind – plus Unterhalt. Sie wohnen in einem alten Bauernhof in einem Dorf mit 30 Einwohnern. Wald, Wiesen, 20 Häuser, eine Bushaltestelle. Die Hauptstraße heißt genauso wie der Ort: Rensdorf. „Was Besseres hätte uns nicht passieren können“, sagt Bernd Melzig. Es ist, als gäbe es plötzlich eine Synthese: Fremdunterbringung – aber die Familie wird nicht getrennt.

Es gab ein Probewochenende. Dann eine Probewoche. Sie haben sich gut verstanden. Das Ehepaar war auch bei Melzigs daheim, sie wissen, was auf sie zukommt. 


Und dann geht es ganz schnell: Sebastian Hardenstein will, dass Melzigs so bald wie möglich umziehen. Als fürchte er, dass die Gasteltern noch einen Rückzieher machen.


Es ist der Freitag vor dem Umzug, Melzigs haben noch sechs Tage in ihrer Wohnung. Sie sind aufgeregt, durcheinander, Bernd Melzig betont immer wieder, was sie doch für ein Glück haben. Aber es gibt dort kein Internet, erzählt er, er hat schon bei der Telekom nachgefragt. Zumindest kein so schnelles, mit dem er und seine Frau ihre Onlinegames spielen können. Die nächste Schule ist so weit weg, das sei doch nicht gut für Kinder, wenn sie so eine lange Anfahrt haben, oder? Und dann ist da noch die Sache mit dem Geld: Sie sollen fast alles, was sie monatlich zur Verfügung haben, an die Gasteltern abgeben – bis Herr Melzig wieder anfängt zu arbeiten, ist das Hartz IV. 


Annika Melzig hat schon angefangen zu packen und dann wieder aufgehört. In einer Ecke stehen die halb gefüllten Kartons mit Geschirr. Heute muss sie sich erst mal ausruhen, sagt sie. Er würde gerne so wenig wie möglich mitnehmen, sagt Bernd Melzig. Sie schauen sich hilfesuchend in ihrer Wohnung um – drei Monate haben sie Zeit, um sie auszuräumen, zu renovieren und an den Vermieter zurückzugeben. Ob sie das schaffen?


Es klingelt. „Herr Hardenstein“, sagt Bernd Melzig. Er ist blass. 


Sebastian Hardenstein kommt, lächelt, setzt sich auf ein kleines Eckchen der Wohnzimmeranrichte, überreicht Bernd Melzig seinen Hartz-IV-Bescheid. Melzigs haben sich vor ihm aufgebaut, die Hände in den Hüften. „Warum bekommen die Gasteltern all unser Geld?“ 


Hardenstein hat mal gesagt, die Melzigs seien wie Kinder in der Pubertät. Und das Jugendamt sind ihre Eltern. Er hört auf zu lächeln und sagt: „Das besprechen wir nächsten Freitag, wenn Sie umgezogen sind.“ Und als geklärt ist, dass die Kinder bei ihnen bleiben und anfangs nicht in ein Internat kommen, entspannen sich alle. Bernd und Annika Melzig erzählen vom Streit, den sie gestern hatten. Hardenstein hört aufmerksam zu, fragt nach, schließlich verabschiedet er sich. 

Eine Woche später haben Melzigs ihren Dachboden verlassen und sind aufs Dorf gezogen. Ihr Handy ist ausgeschaltet, so als ob sie keine Einmischung von außen wollen. Nur Hardenstein hat sie direkt nach dem Umzug besucht, er hat mehrere Stunden mit den Gasteltern und den Melzigs verhandelt und erzählt euphorisiert davon. Die Gasteltern wohnen jetzt im ersten Stock des Bauerhofs, Melzigs im Erdgeschoss. 


Frau Melzig ist wie ausgewechselt, sagt Hardenstein. „Sie macht Frühstück! Und frühstückt sogar selbst. Unsere magersüchtige Frau Melzig.“ Und die Kinder sitzen brav am Tisch und spielen Karten.


„Jetzt sind alle noch in der Euphoriephase“, sagt Sebastian Hardenstein. „Das ist wie Flitterwochen. Interessant wird es, wenn sie auf der harten Ebene des Alltags ankommen.“


Er sagt, dass er daran glaube, dass es klappt. Aber er sagt auch, dass die größte Gefahr darin besteht, dass die Gasteltern anfangen, zu viel zu helfen. Dass sie selbst Aufgaben übernehmen, statt den Eltern in den Hintern zu treten. Das schleicht sich ein, sagt er. Er will das verhindern, indem er die Gasteltern eng begleitet. 

Es ist die letzte Chance für Familie Melzig. Das Gerichtsverfahren ist nicht vom Tisch, es ist schwebend. Wenn Melzigs wieder anfangen, ihre Wohnung zu vermüllen, fliegen sie aus dem Projekt. Das wissen sie. Hardenstein hat sie davor gewarnt. Dann wäre all die Hilfe vergebens gewesen. Denn dann kämen die Kinder in ein Heim.

Irgendwann geht Annika Melzig doch ans Telefon. Sie sagt, sie habe Angst, dass sie in alte Muster verfalle. Und ihr Mann sei immer so müde jetzt, er sei das Dorfleben nicht gewohnt. Aber das erste Wochenende, das sie hatten, sagt sie, das war schön. Sie haben am Samstag viel geschlafen und am Sonntag dann alle zusammengesessen und Kaffee getrunken. „Es war herrlich.

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