Bei diesem Foto, sagt Christian Frommert, sei ein Freund von ihm in Tränen ausgebrochen. Es zeigt Frommert vor einigen Monaten auf dem Höhepunkt seiner Magersucht: das Gesicht eingefallen und hohlwangig, die Schulter- und Beckenknochen spannen die Haut. Wo der Bauch war, ist eine tiefe Kuhle. Man kennt solche Bilder. „Die meisten sehen darin Auschwitz“, sagt Frommert. „Ich sehe immer noch e Speckröllsche.“

Frommert führt durch sein Haus, das sehr groß ist, vielleicht wirkt es sogar größer, weil er so dürr ist. Er wiegt nicht mehr 40 Kilo, vielleicht sind es jetzt 50, so genau weiß er das nicht. Er gehe nicht auf die Waage, sagt er, aus Angst, zugenommen zu haben.
Das Haus ist das umgebaute Lager einer alten Papierfabrik: viel dunkles Holz, offene Galerien, große Fenster, überall Flachbildschirme. Unter dem Dach hat er noch ein großes Heimkino, wenn Freunde kommen – mit Leinwand, gemütlichen Sofas und einem kleinen Popcornautomaten auf der Fensterbank. Im Regal stehen viele DVDs, einige noch unausgepackt, manche in mehrfacher Ausführung. „Ich kaufe viele doppelt“, sagt Frommert, weil er in regelmäßigen Abständen in einen Kaufrausch verfalle. Im Schlafzimmer stünden Tüten voller ungetragener Boss-Klamotten, im Keller lägen Heizungsthermostate von Aldi, die er gar nicht brauche, weil er ja eine Fußbodenheizung habe. „Absolut typisch für einen Magersüchtigen“, sagt Frommert.
Typisch ist auch die Sammlung von Kochbüchern, weil Magersüchtige erstaunlicherweise den ganzen Tag ans Essen denken. Sonst gibt es in der Küche noch einen großen Induktionsherd mit unsichtbarer Dunstabzugshaube, gegenüber steht ein großer silberner Kühlschrank, in dem alles ist, was Frommert so zu sich nimmt: Joghurt mit 0,1 Prozent Fettanteil, 7Up mit null Kalorien, Magerquark, ein paar Champignons, eine Zucchini. „Soll ich mal zeigen, wie es aussieht, wenn ich mir etwas zu essen mache?“, fragt Frommert und hat schon das grüne Keramikmesser in der Hand. „Ich schnipple alles weg, bis nichts mehr übrig ist“, sagt er und schnappt sich einen Kohlrabi. Am Schluss liegen ein paar Gemüseschnitze auf einem aufgeweichten Küchenpapier.
Er hat auch eine Vorratskammer, in der sich die kalorienarme Marmelade stapelt, Kaugummi ohne Zucker, eingelegte Gurken. „Weil ich Angst habe, dass es die Produkte irgendwann nicht mehr gibt, sammle ich sie“, sagt Frommert, ganz so, als erzähle er von einem gediegenen Hobby und nicht von einer Zwangshandlung.

Es ist seltsam, wie viel Energie ein Mensch haben kann, der maximal 800 Kalorien am Tag zu sich nimmt, also den Tagesbedarf eines Babys. Frommert strampelt jeden Morgen ab halb fünf zwei Stunden auf dem Ergometer, weil er sowieso nicht schlafen kann. Die geschwächte Blasen-Muskulatur lässt ihn die ganze Nacht über unablässig zur Toilette rennen – in den Pinkelpausen döst er nur. Nach dem Trimmrad läuft er einen besonders weiten Weg zum Bäcker, um weitere Kalorien zu verlieren. Anschließend sitzt er am Computer, Mails beantwortet er spätestens fünf Minuten nach Eingang. Seit einigen Jahren arbeitet er als Kommunikationsberater. DFB-Teammanager Oliver Bierhoff gehört zu den Kunden, ein Trainer aus der Bundesliga auch. Frommert weiß, wann man am besten was sagen muss.
Früher war er Wirtschaftsredakteur bei der „Frankfurter Rundschau“, später dort in der Geschäftsführung. Anschließend ging er zur Telekom, wo er ein bisschen berühmt wurde, weil er als Sponsoring-Beauftragter den gedopten Jan Ullrich von der Tour de France zurückrief – gegen dessen Willen. Damals musste Frommert den ganzen Tag vors Mikro. „Morgenmagazin“, „Tagesschau“, Sandra Maischberger. In der Zeit, sagt Frommert, habe er irgendwie das Essen verlernt.

Aber kann man das?
Das Essen so verlernen, dass man irgendwann vor einem multiplen Organversagen steht?
Vielleicht, wenn mal mal dick war – und nie wieder so werden möchte.
Wie Frommert: 140 Kilo bei knapp über einsachtzig.

Man darf es eigentlich gar nicht schreiben, denn Frommert hat selbst ein Buch geschrieben – über sich und seine Magersucht. Es kommt Mitte Februar raus, bis dahin will er sich mit der Presse zurückhalten. Nur so viel: Er war als Kind ein fröhlicher Junge. Der Vater arbeitete als Bankdirektor in Frankfurt, die Mutter machte den Haushalt, Samstagabend lief „Wetten, daß .?“. Und wenn die deutsche Nationalmannschaft mal wieder gewonnen hatte, rannte der kleine Christian vor Freude in die Küche und aß einen Becher Mayonnaise.
Wenn er sich heute so betrachtet, also den Christian von damals, dann sieht er einen Jungen, dem es zwar gut ging, dem aber eine gewisse Herzenswärme fehlte, was er mit Essen kompensierte. So sei aus ihm ein ziemlich dicker Typ geworden, der es mit Eloquenz und Humor zwar zu einem größeren Freundeskreis brachte, aber nie eine Freundin hatte. Oder nie eine, die in ihm mehr sah als den Kuscheltyp, beim dem man sich ausheult, wenn es mit den anderen Männern nicht so klappt.
Nach der Schule fand Frommert schließlich doch noch eine Frau. Seine einzige bis heute, wie er sagt. Keine besonders romantische, nicht mal eine glückliche Geschichte. Damals habe er immer gedacht, wie peinlich es ihr sein müsse, wenn sie mit ihrem dicken Freund irgendwo auftaucht.
Als sie schließlich für ein Jahr ins Ausland ging, nahm er sich vor, bei ihrer Rückkehr schlank zu sein. Tatsächlich hungerte er sich von 130 auf 80 Kilo runter. Die Beziehung wurde nicht glücklicher dadurch – aber damals hat er etwas anderes gemerkt: Er kann es. Er kann einfach aufhören zu essen.
Und er merkte, dass die Frauen plötzlich anders waren. Ihn als Mann wollten und nicht als Balu, den Bären. Am besten lief es in der Zeit bei der Telekom, als er auch noch fast prominent war. Da hätten plötzlich Frauen mit ihm ins Bett gewollt, die ihn früher nicht mal angeschaut hätten, sagt Frommert. Nun, er hat nicht nein gesagt.

Über das, was passiert, wenn Menschen, die sich einzig über ihre Arbeit und die mediale Aufmerksamkeit definieren, plötzlich ausgebremst werden, gibt es reichlich Erkenntnisse. Heide Simonis zog eine Castingshow ihrem Privatleben vor, Boris Becker macht Werbung für Pokerturniere, und Hartmut Mehdorn managt jetzt Air Berlin. Bei Frommert war es so: Nachdem er bei der Telekom überflüssig geworden war, ging er nach Südafrika und nahm weiter ab. Er besuchte Freunde in der Nähe von Kapstadt, setzte sich jeden Tag aufs Fahrrad, ging danach joggen und merkte, wie die Pfunde nur so davonflogen, wenn er abends statt Rotwein nur Wasser trank und statt Käse nur Papaya aß. Es war so eine Art Triumph des Willens: Sein Körper wurde immer sehniger, die Haut schön braun – er fühlte sich ziemlich gut. Aber es ging natürlich noch mehr – oder besser: weniger. Frommert machte aus dem Abnehmen eine Art Extremsport.

Die auf Essstörungen spezialisierte Schön-Klinik in Prien am Chiemsee nennt als Ursachen für Magersucht neben dem Einfluss eines medial vermittelten Schlankheitswahns auch das familiäre Umfeld: hohe Leistungsanforderungen, eine klassische Rollenaufteilung mit abwesendem Vater und dominanter Mutter. Zudem würden Konflikte nicht angesprochen, Emotionen unterdrückt und wenig Zärtlichkeiten ausgetauscht. Und was habe seine Mutter zum ihm gesagt, als er ihr eines Tages auf dem Höhepunkt seiner Magersucht ausgezehrt in die Arme gefallen sei? „Dann iss halt was!“
So heißt jetzt Frommerts Buch.

Im Dezember 2011 wurde Frommert in die Klinik in Prien eingeliefert. Es gibt ein Foto aus den Tagen kurz nach der Einlieferung – es zeigt ihn in Unterhosen, das Gesicht von der faltigen Haut zu einer Grimasse verzerrt, die Beckenknochen grotesk hervorragend. Wieder so ein Auschwitzbild. Es erschien Anfang des Jahres in der Bildzeitung – daneben die Schlagzeile: Ex-Telekomsprecher – Wettlauf mit dem Tod. Irgendjemand hatte das Klinikbild weitergegeben. Nicht schlimm für den Medienprofi Frommert.
In der Klink saß er mit 15-jährigen Bulimikerinnen in Gesprächskreisen, auf einen 40-jährigen Mann war niemand vorbereitet. Frommert hörte zu, gab Tipps, man habe ihn den Co-Therapeuten genannt, sagt er.
Ohne viel an Gewicht zugelegt zu haben, entließ sich Frommert schließlich selbst aus der Klinik. Er lässt in seinem Buch kein gutes Haar an dieser Einrichtung. Man habe sich nicht um die Nachsorge gekümmert, ihm nicht mal einen Ernährungsplan mitgegeben.

Mittlerweile hat Frommert eine neue Therapeutin gefunden, der er seit ein paar Monaten immer montags um 17 Uhr sein Leben erzählt. Die Geschichten vom dicken Jungen, der gehänselt wurde, von seiner unglücklichen Beziehung, vom Schlaganfall seines Vaters, der nie wieder war wie vorher und der vergangenes Jahr gestorben ist. Nach dem Tod ist Frommert mit seiner Mutter nach Australien gereist – er sagt, es sei ihr Lebenstraum gewesen, weil eine ihrer Schulfreundinnen dort wohnt. Aber dann hat sie drei Wochen lang mit dieser Freundin auf dem Sofa gesessen, hinter heruntergelassenen Jalousien und sich mit Junkfood vollgestopft. Während er selbst die Supermärkte nach Fatfree-Produkten durchkämmte.
Es muss die Hölle gewesen sein.
Aber seitdem weiß Frommert, dass er seiner Mutter nicht jeden Wunsch erfüllen muss.
Das ist ein ziemlicher Fortschritt, vielleicht sogar der entscheidende.

Es ist schon noch so, dass er immer noch jede Minute ans Essen denkt, ständig Hunger hat. Wenn er morgens auf dem Trimmrad sitzt und die Kalorien dahinschwinden, überlegt er, was er nachher isst – besser: was er nicht isst. Wie viele Mandeln er sich auf das Müsli tut, ob er überhaupt Müsli essen soll, wie lange er rennen wird, wenn er zu viel davon isst. Und ob der Vorrat an Zero-Cola reicht, oder ob er noch mal losmuss zum Supermarkt.

„Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe, wie ich überlebe.“ So lautet der Untertitel seines Buches. Es klingt so, als sei der Kampf gewonnen, als sei das Ganze eine Geschichte, deren Ende schon feststeht. Frommerts größte Story:
Einmal Magersucht und zurück.
Mit einem unglaublichen Comeback.
Vielleicht ist das das Ende.