Na, altes Haus

An den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, kann ganz schön weh tun

Von Ralf Grauel

Sechs Monate nachdem meine Oma gestorben war, überschrieb mein Opa meinem Vater den Kleingarten, dann zog er in einen anderen Teil der Stadt, zu einer anderen Frau, fort von seiner Tochter, seinem Schwiegersohn, meinem Bruder und mir. 
Mein Vater riss die alte Laube ab und die Kaninchenställe, erweiterte die Grundrisse um größere Gebäude. Dabei stellte sich mein Vater absichtlich dumm, wahrscheinlich hat er später den Mann vom Bauamt bestochen, der das Haus abnahm, auch in Kleingärten darf man nicht bauen, wie man will. Auf jeden Fall erweiterte mein Vater den Grundriss, setzte mit Arbeitskollegen, Freunden und Kleingärtnern – bei denen er sich noch Jahre später mit Gegenarbeit revanchierte – in diesen Schrebergarten einen Palast von einem Kleingartenhäuschen. Mit drei Betten auf dem Dachboden, einer Dusche, zwei WCs, Küche, Essecke mit Sitzbank und mit einenm Couchbereich; und draußen Ställe. Die Außenwände verkleidete er mit Klinkersteinen. Als alles fertig war, bestellte er bei einem Schlosser, der beim selben Kraftwerk arbeitete wie mein Vater (von dort auch kam auch der Großteil des Baumaterials, Zement, Steine, Holz), einen Schriftzug und schraubte ihn an die Front: „Haus Wilma“. 

Das war 1972, ich war acht, mein Bruder zwölf Jahre alt. Auch der Garten wurde bald zu einem der prächtigsten der Anlage, die mein Großvater nach dem Weltkrieg mitgegründet hatte. Er war dort auch mal erster Erster Vorsitzender, gleich nach der Gründung hatten sie Pappeln gepflanzt, sie standen in Reihe, hinten am Ende des schwarz geschotterten Weges, an dem unser Garten lag. Die Bäume waren schon gewaltig und himmelhoch, als ich noch ein Kind war. „Pappeln wachsen schnell“, hatte mein Opa gesagt. 

Vom Gartentor führte ein schmaler, von Rosen gesäumter Weg auf das Haus zu, links daneben lag das Kartoffel- und Gemüsefeld. Es gab Stachelbeeren, Johannisbeeren, Apfelbäume, Kirschbäume, Birnbäume. Vieles, was man heute im Supermarkt kaufen kann, bauten meine Eltern irgendwann auch mal an. Später kam eine irrwitzige Menge an Zierpflanzen und Stauden hinzu. Danach baute mein Vater eine Volière hinter das Haus, darin züchtete er chinesische Nachtigallen, Kanarienvögel und Wachteln. „Mein Mann ist gut zu Vögeln“, sagte meine Mutter immer, wenn sie Besuch hatten. 
Irgendwann setzten sie noch ein Blumenbeet mit Jasmin, Veilchen, Lavendel und tränenden Herzen vor die Terrasse, deren Bodenplatten und Säulensteine mein Vater übrigens nicht nur selbst verlegt, sondern sogar selbst gegossen hatte. Sie pflanzten Hibiskus, Haselnusssträucher, Säulenkirschen, Spalierobstbäume, stellten ein Schulkind-großes Kerlchen aus Plastik mit Jacke, Hut und Pfeife an den Rand der Terrasse, das pfiff, wenn man vorbeilief – wie Männer Frauen hinterher pfeifen. 

Jeden Sommer wohnten meine Eltern in diesem Garten, fuhren von dort zur Arbeit, mein Vater mit dem Mofa, meine Mutter mit dem Fahrrad, kamen abends zurück, saßen auf der Terrasse. An den Wochenenden grillten sie, feierten Feste, mit Freunden. So ging ihr Leben. Sie wurden älter, runder, langsamer, die Zeit lief schneller, der Garten wuchs. 
Mir schien es, als würden meine Eltern in einem dicken Blumenstrauß wohnen, aus dem ständig Vogelzwitschern kommt. Wenn ich meine Eltern besuchte, in den Jahren, als ich schon lange nicht mehr zuhause zu Hause wohnte, lagen Sie sie oft ausgestreckt auf ihren Gartenstühlen unter dem ausladenden Dach des Haselnussstrauches. Falls ich vorher angerufen hatte, saßen Sie sie auf der Terrasse, bei Kaffee und Kuchen, eingerahmt von Blumenkästen, Ranken, Blüten und bunten Glasfenstern, die mein Vater aus irgendeiner alten Kneipe ausgebaut hatte. Weil das Gartentor immer quietschte, sah ich sie ihre kleinen Gesichter zu mir drehen und hörte, während ich den langen Rosenweg auf sie zulief, ihre Kommentare, die beim verlorenen Sohn anfingen und je näher ich kam, meine Kleidung, dann meinen Haarschnitt thematisierten. Dann freuten und umarmten wir uns. 

In den Neunziger neunziger Jahren kam meine Mutter mal in die Zeitung. Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ hatte im SPD-Ortsverein angerufen, weil sie eine sommerliche Geschichte machen wollten über Frauen, die noch Obst und Gemüse einkochen, die Vorsitzende hatte dem Reporter meine Mutter empfohlen. „Wilma Grauel packt den Sommer ins Glas“ war die Headline, auf dem Foto stemmt meine Mutter ein Einmachglas mit Bohnen in die Kamera. Auf einer halben Seite brachten sie die Story meiner Bohnen und Birnen einkochenden Mutter. Daraufhin rief mein Vater in der Redaktion an und meinte, sie sollten mal vorbeikommen und seinen Trompetenbaum fotografieren, der sei der prächtigste Trompetenbaum weit und breit. Das machte die Redaktion auch, schickte wieder einen Reporter vorbei, und so kam kurze Zeit später auch mein Vater in die Zeitung, eine Drittelseite. Daraufhin rief mich mein Vater an, bat, ihm den Artikel hochzukopieren und einzurahmen. Seinen Zeitungsausschnitt hängte er im Haus auf; , den meiner Mutter nicht. 

Beide Ausschnitte hängen heute in dem Pflegeheim, in dem meine Eltern wohnen. Ihre Wohnung, der Garten sowieso, war für sie zu gefährlich geworden, meine Eltern kennen sich nicht mehr so gut aus in der Welt. Meine Mutter war Jahre nicht mehr im Garten. Mein Vater zuletzt im Herbst vorigen Jahres; sein Reich wuchs ihm über den Kopf, jedes Jahr ein bisschen mehr. Während die Pflanzen wucherten und wucherten, starben in seinem Kopf die Gehirnzellen ab. 

Der Garten ist heute völlig verwildert. Vom Weg aus ist das Haus fast nicht mehr zu sehen. Schulterhoch steht das Unkraut, das sich durch die Ritzen der Gehwegplatten geschoben hat. Die Last der Äpfel und Birnen zieht die Zweige der Obstbäume zur Erde. Überall liegen halbfertige Projekte, auf der Terrasse, in der Laube. Bierflaschen, Tulpenzwiebeln, Schrauben, Glühbirnen, Wasserpumpenzangen, Schraubenzieher, Schubladen, Töpfe. Während meine Mutter zuhause zu Hause vor sich hindämmerte, fuhr mein Vater, so lange er das körperlich noch konnte, in den Garten und werkelte vor sich hin. Irgendwann saß er wohl nur noch da. Als ich den Garten zum ersten Mal so sah, konnte ich nichts unternehmen, ich war gerade Vater geworden. Dann war es schnell an der Zeit, mich um die Gesundheit und Sicherheit meiner Eltern zu kümmern. 
Mein Bruder will den Garten nicht. Ich wohne zu weit weg, um ihn zu pflegen. Nun muss ich ihn verkaufen. 

Der Garten war auch Schauplatz unerfreulicher Szenen. Hier prügelte ich mich mit meinem Vater, am nächsten Tag mit meinem Bruder; aber bis auf diesen einen großen Streit, der mich glücklicherweise früh die Koffer packen ließ, habe ich nur gute Erinnerungen. Meinem Bruder geht es da anders. Für ihn ist der Garten, wie jeder Ort, an dem unser Vater sich befand und befindet, ein Ort des Streits. Im Garten, an vielen vergeigten Nachmittagen, musste er erleben, wie sein Ziehsohn nie das Enkelkind meiner Eltern wurde, das es hätte werden können. Und meine Eltern nie die Großeltern wurden, die sie hätten werden können. 

Natürlich wurden wir als Kinder auch ausgeschimpft, wenn wir mit den Fahrrädern, statt sie zu schieben, über die schmalen Gehwegplatten fuhren. Oder Fußball spielten und die bommeligen Rosen abknickten. Aber das war ja okay. Im Gegensatz zu anderen Kindern wurden wir nur äußerst selten zur Gartenarbeit verpflichtet. Wir durften machen, was wir wollten. Ich spielte Tischtennis bei Walter Wellermann, trieb mich in der Anlage herum, ging allein auf Erkundungstouren durch den Wald, kam oben am Yachthafen heraus, der in einem toten Arm am Ende des Rhein-Herne-Kanals lag, wo ich irgendwann schwimmen lernte, nachdem mein Bruder mich hineingeschubst hatte. 

Der Garten hat uns wohl alle gerettet. Er gab jedem von uns Auslauf. Nachdem wir den Winter über in einer viel zu kleinen Wohnung gehockt hatten, atmeten wir im Frühjahr durch. Unsere Eltern zogen den Sommer über in den Garten, und mein Bruder und ich blieben, als wir alt genug waren, allein Zuhausezu Hause. Für uns war das meistens okay, wenn wir uns nicht gerade prügelten. Aber im Sommer beruhigte sich alles. Der Garten war ein Überlaufbecken. Ohne ihn wäre Schlimmes passiert. 

Meine Erinnerungen: Der der Duft nach Reibekuchen und Apfelmus aus der alten Laube. Läuse, die am Birnbaum hoch laufen und am Klebeband kleben bleiben. Ameisen, die aus den Ritzen der Gehwegplatten kleine Sandkörnchen nach oben schieben. Meine Mutter im Kittel mit klatschenden Holzlatschen. Fliegen, die ich mit einem DAB-Bierdeckel und einem Glas fange, aufspieße. Kaninchen und wie mein Vater ihnen die Haut abzieht. Unsere Tauben, die unter dem Dach der alten Laube wohnten, mein Opa züchtete sie, alle paar Monate schlachteten wir welche, dann gab es sonntags Taubensuppe. Einmal hielt ich eine fest, auf dem Baumstumpf, den wir zum Holzhacken benutzten und dazu, Tauben zu köpfen. Am Schnabel zog mein Vater den Hals der Taube lang, ich hielt Körper und Flügel in den Händen. Mit dem Beil in der anderen Hand schlug er ihren Kopf ab. Ich erschrak, ließ die Taube los. Sie flog hoch, flatterte kopflos unter den Giebel und schlug gegen die kleine Tür zu ihrem Taubenschlag, dann fiel sie tot auf die Steinplatten. 

Meine stärkste Erinnerung kommt aus dieser Zeit, als die alte Laube noch stand, mein Opa der Chef im Garten war, dort in Hose und weißem Feinripp-Unterhemd saß oder arbeitete. Sie hat komischerweise mit Herrn Pietrowski zu tun, unserem Nachbarn rechts. Herr Pietrowksi trug immer karierte Hemden, die Ärmel hatte er hochgekrempelt, Unterarme dünn und sehnig, wie die meines Opas, die beiden hatten zusammen auf derselben Zeche gearbeitet, Friedrich der Große, Schacht 3/4. Herr Pietrowski wusch sich die Hände. Dabei rieb er aber nicht die Handflächen aneinander, mal innen, mal außen, wie ich das immer machte. Er knetete sie erst, als hätten sie etwas verbrochen. Dann schickte er seine Hände in einen seifigen Ringkampf, bei dem es wohl darum ging, möglichst schöne, runde Bewegungen zu machen. Ich muss in dem Moment begriffen haben, dass ich ein Kind war. Und er ein alter Mann. Aber Begreifen ist falsch, denn ich kann mich genau erinnern, wie ein Gefühl von Ehrfurcht und Bewunderung in mich fuhr – vor so viel Konzentration, Kunstfertigkeit, Ernsthaftigkeit und Konsequenz. Danach wusch ich meine Hände wie ein Erwachsener, versuchte es zumindest. 
Dies war wohl das schöne Schöne an unserem Garten: Er war der Ort, wo alles zusammenkam. Meine Kindheit mit der Welt der Erwachsenen, einfach so, ohne Struktur, ohne Plan. Da gab es keinen Blockflötenunterricht, keine festgelegten Zonen oder Zimmer. Alles, was da war, gehörte uns allen, also mir. Das Gebüsch, die Sträucher, das Gemüse, unser Leben. Der Garten war wie Urlaubmachen. Irgendwie machten alle dasselbe, selbst wenn zwei Federball spielten, einer Holz hackte und einer Kirschen entsteinte. Es gab keine getrennte Zeit, keine getrennten Räume. 

Die einzige echte Grenze waren die Rasenkantensteine. Die trennten die Fläche, auf der wir Fußball spielten, von den gefährlich frisch geharkten, braunen, saftig, nackten, unkrautfreien Blumenbeeten, die wir auf keinen Fall mit Füßen betreten durften! Fiel man auf die Rasenkanten, konnte das ganz schön zwiebeln. Da habe ich mir beim Saltokanonespielen mal den Arm gebrochen, doppelt sogar. Als meine Mutter den Arm sah, wurde sie erst blass, dann ohnmächtig. Ich bekam einen schicken Gips. 

Vorgestern Abend bin ich ins Auto gestiegen, einmal quer durch Deutschland gefahren, in meine Heimatstadt, habe im Hotel übernachtet und bin morgens früh in den Garten gegangen und habe das Haus-Wilma-Schild abgeschraubt. Dann habe ich einen Spaten genommen, drei Rosenbüsche ausgegraben und zwei Ableger des Hibiskus, der an der Stelle steht, wo früher der Trompetenbaum stand. 

Ich hatte vor Monaten schon die Wohnung meiner Eltern aufgelöst, aber das hier war hart. Als ich in der Laube saß, hätte ich am liebsten den ganzen Krempel, die verschimmelten Gartenstuhlauflagen, das Geschirr, die muffigen Möbel, das ganze Haus, in einen großen Sack gesteckt und mitgenommen. Stattdessen habe ich Werkzeug eingepackt, Gummistiefel und den Hausmeisterkittel meines Vaters, Harken, Spaten, eine Schüssel, einen Stuhl, und alles ins Auto geladen, bis es voll war. 
Abends fuhr ich zum ersten Ersten Vorsitzenden der Vereins, einem alten Mann, und gab ihm die Schlüssel. Der Verein wird den Garten übernehmen, niemand kauft noch Schrebergärten, schon gar nicht in Herne. In der Anlage sind nur noch alte Menschen. Früher war dort alles voller Kinder. Die Leute gucken lieber Fernsehen, meinte er. 
Das Werkzeug und die Pflanzen habe ich mit nach Berlin genommen. Dort haben wir sie gerade in dem großen, parkartigen Garten, der das Haus meines Schwiegervaters umgibt, eingesetzt. Die Idee hatte meine Frau. Mit ihrem Vater, einem klugen, behutsamen Mann, haben wir heute morgen Morgen eine schöne Stelle gesucht und direkt an der Terrasse gefunden. Da stehen die Rosen und die Hibiskusse jetzt. Hoffentlich gehen sie an. 

In diesem Haus verbringen wir jedes Wochenende, meine Frau, ich und unsere Tochter. Ich muss sie gar nicht anschauen, um zu wissen, wie glücklich sie ist. In diesem Haus und dem Garten, in dem nun das Leben weiter geht.

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