Es geht sofort los

Härter als das Berghain: Die Behindertendisco in Güstrow

Von Fabian Dietrich


Sie hängen es nicht an die große Glocke, und das ist wahrscheinlich auch gut so. Nur Eingeweihte wissen, wann es in Güstrow, Mecklenburg-Vorpommern, wieder so weit ist. Alles funktioniert über Mundpropaganda, klassischer Underground. Im offiziellen Programm steht die Party jedenfalls nicht. Das STUK liegt im Schwarzen Weg, ein unscheinbarer Flachbau hinter einem Backsteinmonstrum, das im Dunklen tatsächlich ein bisschen so aussieht wie das Berghain in Berlin. „Wenn wir die Party auf unserer Internetseite ankündigen, dann rennen die uns die Bude ein“, sagt Thomas, einer der Leiter des ehemaligen Studentenclubs. Die Getränkepreise sind unschlagbar: 1,30 Euro für ein gezapftes Rostocker Pils, 1 Euro für ein großes Mineralwasser, 2 Euro für eine Cola mit Alkohol drin. Seit 1999 organisieren sie hier einmal im Monat die legendäre Behindertendisco, zu der manchmal sogar Busse aus Wittstock kommen (das ist 90 Kilometer entfernt). Thomas, der normalerweise Hardrock auflegt, hat sich wie immer die Kiste mit den „Bad-Taste-CDs“ mitgebracht. „Es braucht schon‘ bisschen Bums“, sagt er. 

Wenn er das STUK um Punkt 19 h aufschließt, warten an manchen Abenden schon 50 Leute vor der Tür. Heute sind es nur sechs oder sieben. Aber dann strömen sie plötzlich herein: kleine und große, alte und junge, dicke und dünne, ein paar Rollstuhlfahrer, ein hagerer blasser Mann mit hoher Stirn, der ohne erkennbaren Grund auf mich zuläuft und fragt: „Bist du böse auf mich?“ Eine Kleiderordnung gibt es natürlich nicht. Alles ist erlaubt: Strickjacken, T-Shirts, Pullover, Forst- und Gartenarbeiteroutfits, Sonnenbrillen, Fußballtrikots, Harry-Potter-Capes. Sofort wird klar: Es ist keine von den Partys, die sich langsam steigern, bis sie irgendwann im Morgengrauen anfangen gut zu sein. Die Behindertendisco dauert ja nur drei Stunden, also geht es schon mal los wie eine Explosion. Kein großes Rumgesitze, kein lahmes Rumgequatsche und vor allem: keine Schüchternheit. Es wirkt, als seien hier vom ersten Moment an alle auf einer Art natürlichem Ecstasy. Niemand muss sich aufwärmen. Niemand muss locker werden. Niemand muss sich abschießen, auch wenn die Getränkepreise noch so günstig sind. „Das ist was zum Mitmachen!“, ruft Thomas durch sein Mikrophon in die glücklichen Behindertengesichter rein, und ja: alle machen mit. Wie er da so in der DJ-Kanzel steht, mit seinen halblangen Haaren, so saucool und blass, erinnert er plötzlich ein bisschen an Tony Wilson, den Gründer des berühmten Clubs Hacienda aus Manchester (das ja auch mal Madchester genannt wurde, wegen der verrückten Partys, die es da so gab). Nach geschätzten elf Minuten erlebt das STUK seinen ersten Höhepunkt. Es läuft Captain Jack, das militaristische One-Hit-Wonder der mittleren 1990er Jahre. Sie skandieren: „Hey-Yo, Captain-Jack / Bring-me-back to the railroad-track.“ Psychos, Mongos, Spastis, Verwachsene und Normale verwandeln sich im Hit-Gewitter des DJ Thomas zu einem fröhlich zappelnden Menschenbrei. Paartanz, Einzeltanz, Rollifahrertanz, Betreuertanz – you name it. Es wird gebaggert, geglotzt, gelacht. „Yippie-Yippie-Yeah, Yippie-Yeah / Krawall und Remmi-Demmi.“ 

Im Toilettenbereich scheint der Fußballverein Hansa Rostock das mit Abstand beliebteste Gesprächsthema zu sein (sogar ein behinderter Hooligan ist da). 
„Mhm, Hastunschalfürmich?“ 
„Was habe ich?“ 
„Rostockschal.“ 
„Warum?“ 
„Rostockschal.“ 
„Nein, hab ich nicht.“ 

Toni, ein Spastiker, der zum ersten Mal im STUK ist, hampelt aus Freude so stark, dass Marcel, mit dem er gemeinsam auf die sonderpädagogischen Schule Anne Frank geht, Angst hat, der Rollstuhl könne trotz Stützen umkippen. Das sei dem Toni neulich schon mal passiert, sagt er, und hält ihn ein bisschen von hinten fest. 

Ein friedfertiger Rocker erscheint in der Behindertendisco, seine Harley-Davidson-Lederjacke ist mit einem Böhse Onkels Aufnäher verziert. Eine Bande dicker Hip-Hop-Jungs testet brachiale Tanzbewegungen. Eine Hippie-Punkerin bewegt sich daneben verzückt und schlangenhaft. Es läuft mittlerweile ein Lied, dessen Refrain lautet „Santamaria! / Insel, die aus Träumen geboren / Ich hab meine Sinne verloren“. Ein älterer Mann in einem grauen Pullover ruft immer nur „Jaaa! Jaaa!“ und winkt roboterhaft mit dem Arm. Ein ältere Frau mit einem blonden Prinz-Eisenherz-Haarschnitt wippt an einem Tisch mit ihrem Oberkörper ihrer Hand entgegen, die sie beschwörend über ein leeres Bierglas hält. Minutenlang. Vielleicht sogar Stunden. Und auch das ist völlig okay. 

Irgendjemand greift meine Hand. Ich drehe mich um und blicke in das strahlende Gesicht einer jungen Frau, die tatsächlich ein bisschen aussieht wie das Sams aus dem Kinderbuch. „Wer bist du?“, frage ich. „Manuela“, sagt sie. „Hast du einen Freund?“ „Klar, ich habe ich einen Freund.“ Ich löse mich von der verschwitzten Hand und ziehe meinen Pullover aus. Manuela macht eine ist-das-erotisch-und-scharf-Geste und täuscht anschließend eine Ohnmacht vor. Dann richtet sie sich auf und brüllt mir ins Ohr: „Du bist aber ein süßer Junge, kommst du öfter her?“ 

Um kurz vor zehn hat der Star des Abends, seinen traditionellen Auftritt. Dirki, ein kleiner, Brille tragender Mann mit Down-Syndrom, erklimmt das DJ-Pult. Früher hat er sich als DJ-Ötzi verkleidet, aber jetzt macht er meistens einen auf Schlagersängerin Andrea Berg, obwohl er – das ist jetzt kein Widerspruch – heute wegen Karneval einen Reisigbesen schwingt und eine kleine Hexe sein will. „Andrea Berg ist hier. Aber Andrea Berg hat heute keine Perücke an“, verkündet Thomas und gibt dem kleinen Mann das Mikrophon. Man kann Dirki kaum verstehen, aber seine Performance ist trotzdem fabelhaft. Lallend singt er über die von sanften Alleinunterhalterorgelmelodien und knallharter, dumpfer Bassdrum untermalte Stimme von Andrea Berg: „Du hast mich tausend mal belogen / du hast mich tausend mal verletzt/ ich bin mit dir so hoch geflogen/ doch der Himmel war besetzt.“ 

Irgendwann geht einem der Überblick komplett verloren. Alles verschwimmt. Es ist gar nicht mehr erkennbar, wer genau was hat, und wer nochmal nicht. Das süße, kleine Mädchen mit den Augenringen – die etwa auch? Man will ja nicht so direkt fragen… es ist ja auch egal. Aber grade die, die man für besonders behindert gehalten hat, ziehen nach längeren, extra behindertengerecht geführten Small-Talk-Konversationen am Rand der Tanzfläche (WIR KOMMEN AUS BERLIN. DAS IST WEIT WEG. MIT DEM AUTO SIND WIR DA. DER, DER IMMER DIE FOTOS MACHT, DER MIT DER KAMERA, DER HEISST TOBI. DER IST FOTOGRAF. UND ICH BIN FABIAN. ICH SCHREIBE. WIR SIND VON EINER ZEITSCHRIFT. SOWAS WIE ZEITUNG. DUMMY. MAGAZIN.) plötzlich ein Iphone aus der Tasche und stellen sich als geistig völlig klarer Betreuer oder Nachbarn heraus. Unfassbar peinlich ist das. Aber auch normal. Deswegen lohnt es sich ja so in die Behindertendisco nach Güstrow zu fahren.

Zum Heft