Finger weg von meiner Paranoia

Zu Besuch bei einer alten Dame, deren Nachbar sie töten will. Sagt sie

Von Oliver Gehrs

Hagel wohnt hier nicht mehr. Aber das ist egal, darum geht es nicht. Er ist noch immer da und macht das, was er immer gemacht hat: Er bohrt, hämmert, er kriegt seine Tobsuchtsanfälle, er leitet Strom und giftige Chemikalien in die Wohnung von Else Schumann, die unter ihm wohnt. Manchmal bricht er bei ihr ein, zerknüllt eine ihrer Blusen und legt sie auf die Waschmaschine, damit sie merkt, dass er da war (sic!) und sich fürchtet.

Und Else Schumann fürchtet sich. Seit zehn Jahren.

Sie ist hierher gezogen, als ihr Mann starb. Die alte Wohnung war zu groß geworden und im Garten dort tauchten immer häufiger düstere Gestalten auf, die bis in die Morgenstunden tranken, als wären sie dort zu Hause.

Als ihr Mann tot war, hat Frau Schumann nicht nur getrauert. Sie war ja noch einigermaßen jung, keine 60. Also hat sie erst einmal die neue Freiheit genossen. Ist ausgegangen und hat Reisen unternommen. Ihr Mann hatte ihr nicht einmal erlaubt, den Führerschein zu machen, weil er der Auffassung gewesen war, dass Frauen nicht hinters Steuer gehören. 

Dann wurde dieses Appartement frei: 60 qm im vierten Stock, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad, Küche, ein schöner Balkon nach Süden und der Edeka direkt vor der Haustür. Und noch besser: Ihre ein Jahr ältere Schwester Johanna wohnt auch hier, sogar auf demselben Flur.

Ach ja, die arme Johanna: Neulich lag sie bis auf ein T-Shirt entkleidet vor ihrer Wohnungstür, an ihrer Schläfe klebte Blut. Hagel war in ihre Wohnung eingedrungen, hatte sie überwältigt und betäubt, anschließend auf den Flur geschleppt und ihren Kopf zwischen der Wand und einer Truhe eingeklemmt. Daher das Blut. Weil es sich um ein Gewaltverbrechen handelte, hat Else Schumann an die Hausverwaltung geschrieben: „Wie lange darf sich Hagel das noch erlauben“ hat sie in ihrem Brief gefragt. 

Geboren wurde Else Schumann 1923 in derselben Stadt, in der sie heute noch lebt. Sie hat noch das Dritte Reich miterlebt, die Aufmärsche der Nazis, die Tage, an denen die Bäckerei ihres Vaters rammelvoll war. Weil sie keinen Luftschutzkeller hatten, ist ihre Familie vor den Bombenangriffen in die SS-Kaserne gleich gegenüber geflohen. 

Eigentlich hat sie den Krieg gut überstanden. Ihr Bruder, der an der Front war, kam heil nach Hause zurück. Die Bäckerei musste schließen, aber wenigstens lebte man. Vielleicht hat sie dem Krieg ja sogar was zu verdanken, was ihr heute noch hilft zu überleben. Irgendwie lebt sie ja wieder in einem Krieg.

Else Schumann kramt in einem kleinen geflochtenen Kasten, in dem sie ihre wichtigen Unterlagen aufbewahrt. Sie tragen die Briefköpfe der Hausverwaltung, von Anwaltskanzleien, einige vom Landgericht. Ihre Briefe, die sie säuberlich kopiert hat, haben keinen Briefkopf. Sie sind bis zur letzten Zeile in akkurater Handschrift verfasst – selbst die, die sechs Seiten lang sind, das Papier vorne und hinten beschrieben. In ihnen stehen Worte, die gar nicht zu einer alten Dame passen: „Perverser Spanner“ steht da, „Dreckschwein“ und „gerechte Strafe“. Immer geht es um Herrn Hagel.

Er war schon da, als Else Schumann in die Wohnung zog. Vom ersten Tag an war Hagel nicht zu überhören. Sein lautes Stöhnen, die Musik, der ständig laufende Fernseher, sein Rumpeln. Vielleicht die normalen Geräusche eines lauten Nachbarn. Vielleicht aber auch etwas zu laut. Wer will das heute noch sagen.

Jedenfalls fand Else Schumann keine Ruhe mehr. Wenn sie ins Bett ging, lauschte sie schon bang und natürlich hörte sie wieder was. Erst leise, dann lauter. Sie wälzte sich hin und her, selbst im Morgengrauen war an Ruhe nicht zu denken. „Am 25.8. 2003 zwischen 5 Uhr und 6 Uhr 30 hörte es sich an, als rolle Hagel große Kugeln durch seine Wohnung“ steht in einem ihrer Beschwerdebriefe an die Hausverwaltung.

Der Lärm war das eine. Dann fielen Else Schumann andere Sachen auf. Als sie unter der Dusche stand, fühlte sie sich plötzlich ganz komisch – als würde ihr jemand zugucken. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Hagel sie beobachtete. Wie er das anstellte, das weiß sie bis heute nicht. Auch andere Vorfälle blieben mysteriös. Zum Beispiel die Sache mit dem Gas. Es fing damit an, dass ihr der Boden im Bad glitschig vorkam und einen süßlichen Geruch verströmte. Gas riecht süßlich und legt sich seifig auf die Fliesen. Wochenlang war an Duschen nicht mehr zu denken.

So gibt es fast jeden Tag Überraschungen: Einmal kam Frau Schumann nach Hause und fand ihre Wohnung unter Wasser. Es hatte den Teppich zerstört und war sogar unter die Fußleisten gekrochen. Als sie einen Handwerker für die Reparatur rief, entdeckte der in den Wänden große Hohlräume. „Man konnte einen ganzen Arm durchstecken“, sagt Else Schumann. Natürlich hätte man durch diese Hohlräume auch Dämpfe einleiten können, giftige Chemikalien. Ein andermal stand der Matjes aus dem Kühlschrank einfach auf der Küchenspüle – offenbar hatte sich Hagel mit einem Zweitschlüssel in die Wohnung geschlichen. Und wo er schon mal da war, hat er es sich gleich noch auf dem Sofa gemütlich gemacht. Ein großer Fettfleck an der Wand darüber erinnert noch an ihn. „Ich finde das richtig eklig“, sagt Frau Schumann.

Die 87-Jährige ist für ihr Alter körperlich ziemlich gesund. Kein Krebs, kein Alzheimer, nur mit dem Laufen klappt es nicht mehr so gut. Neue Knie hat sie bekommen, inzwischen ist ihr die Arthrose den Rücken hochgekrochen und in die Schulter. Dagegen nimmt sie ein Schmerzmittel oder sie reibt sich mit Gel ein. Aber gegen ihr größtes Leid gibt es kein Medikament.

Ihre Tochter sagt natürlich, sie solle nicht rumspinnen, ihr Schwiegersohn – ein Chemiker – winkt nur ab, wenn sie mit Herrn Hagel anfängt. Ihre Enkelkinder, die auf den meisten Bildern in ihrer Wohnung zu sehen sind, hören ihr manchmal zu, aber es könnte sein, dass sie ihrer Oma nur einen Gefallen tun. „Es ist ja ziemlich einfach, mich für verrückt zu halten “, sagt Else Schumann. Die Hausverwaltung beantwortet ihre Briefe schon lange nicht mehr, nachdem Herr Hagel erfolgreich gegen Frau Schumann geklagt hat wegen Verleumdung. Sie solle nicht mehr behaupten, dass er große Kugeln durch die Wohnung rolle und sie mit Gift umbringen will. 

Sie hat auch ohne diesen Rechtsstreit ganz schön viel Geld in den Streit mit Hagel investiert. Die Laminat, mit dem sie die Wohnung nach dem Wasserschaden hat auslegen lassen, war auch nicht billig. Zudem hatte sie zwei Detektive für 900 Euro im Monat angeheuert, die Hagel auf die Schliche kommen sollten. Einmal wollten sie sich bei den Nachbarn als Fernsehmonteure verkleidet Einlass verschaffen, flogen aber auf. Billiger war es deshalb nicht. Frau Schumann hatte auch den Eindruck, als hätte es einer der Detektive nur auf ihr Geld abgesehen. Der andere, der nette, ist vor Kurzem verstorben. Mit sechzig, einfach so.

Seitdem muss sich Frau Schumann selbst schützen. An ihrer Wohnungstür befinden sich fünf zusätzliche Schlösser. Kleine mit Ketten, große mit Zahlencodes. Manchmal schafft es Hagel dennoch, in ihre Wohnung zu kommen und Frau Schumann zu verwirren. Sie hat zum Beispiel drei blaue Polohemden im Kleiderschrank gefunden, die definitiv nicht ihr gehören. Sie lässt sie dennoch erst mal hängen, weil es Beweisstücke werden könnten. Aber bei der Vorstellung, dass Hagel ihre Sachen berührt, wird ihr schwindelig.

Mittlerweile geht Frau Schumann kaum noch aus dem Haus. Zu groß sind die Schmerzen, zu schwer fällt ihr das Gehen. In der Wohnung stützt sie sich auf einen Rollator, in dessen Körbchen vorne ihre Tabletten liegen und das Voltaren-Schmerzgel. Zum Frühstück, zum Mittag und zum Abendessen kommt ihre Schwester rüber, sie müssen sich dann leise unterhalten, weil sie abgehört werden. Manchmal sprechen sie auch besonders laut, damit Hagel mitkriegt, was sie so zu sagen haben. 
Wie sieht er eigentlich aus, der Herr Hagel? 
„Gesehen habe ich ihn nur einmal“, sagt sie. „Leider von hinten. Als er mich erblickte, hat er sich sofort umgedreht.“

Frau Schumann hat jetzt mal alle Briefe vorgelegt. Auch den letzten, der noch nicht fertig ist, obwohl er schon acht Seiten umfasst. Diesmal wird die Hausverwaltung nicht anders können, als zu reagieren. Manchmal kommt es ihr so vor, als sei sie die einzige, die sich um Hagel und seine Marotten kümmert. Selbst die Polizei kommt nicht mehr, wenn sie anruft. Es hängt also von ihr ab, ob dieses Haus noch einmal Ruhe findet. 

Es ist schon fünf Jahre her – da sah es ganz gut aus. Da schien der Kampf vorbei zu sein. In Hagels Wohnung zog die Tochter des griechischen Wirts ein, der unten im Haus ein Restaurant betreibt. Beim Einzug lud sie alle Mieter in die renovierte Maisonettewohnung ein, auch Else Schumann. Aber sie ist nicht hingegangen, weil sie von vorneherein wusste, dass die Tochter des griechischen Wirts nur in Hagels Auftrag handelt. Dass sie die Wohnung für ihn gemietet hat. „Er macht auch gar keinen Hehl daraus, dass er noch da ist“, hat Frau Schumann an die Hausverwaltung geschrieben. „So hat er z.B. am 24.8. einen Tobsuchtsanfall bekommen. Er hat sich auch zwischen 16 und 17 Uhr in die Wohnung von Familie Klein begeben, um dort vom Balkon aus immer wieder Arschloch zu brüllen.“

Inzwischen soll noch jemand anderes in der Wohnung wohnen, wieder eine Frau. Wenn man in den fünften Stock geht, um nachzusehen, wer da über Frau Schumann wohnt, findet man den Namen „Jakob“ an der Tür. Aber Frau Schumann geht nicht hoch, sie ist doch nicht wahnsinnig. 
Ist sie nicht? 
Man kann es auch anders sehen. Der Streit mit Hagel hält Frau Schumann auf Trab: Sie schreibt ja den ganzen Tag Beschwerdebriefe an die Polizei und an den Hausmeister, sie führt Buch über seine Untaten und schaut, wo sie die besten Schlösser bekommen kann. Und das Beste ist: Es gibt immer jemanden, der an allem Schuld ist. An all den kleinen Pannen im Alltag, die im Alter immer größer werden. Wer hätte nicht gern einen, dem man die Schuld geben kann.

Warum sie denn nicht woanders hinzieht? Frau Schumann sagt, dass sie das natürlich immer mal wieder gemeinsam mit ihrer Schwester überlege, aber letztlich komme man immer zu dem Schluss, dass sie so etwas nicht mehr finden. Eine Wohnung, bei der der Edeka direkt vor der Tür liegt.

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