Da kann man nichts machen

Warum es Bielefeld dennoch bringt

Von Oliver Geyer

Im Dunkeln liegt, was genau es war, das dieses Gefühl von Mangel in die Seele meiner Heimatstadt eingeschrieben hat. Der Ehrgeiz, zur Spitze gehören zu wollen, brennt bei den Mittelmäßigen am stärksten, heißt es. Aber das ist so eine Feld-, Wald- und Wiesendiagnose. Es ließen sich genug mittelmäßige Orte anführen, deren Bewohner Frieden geschlossen haben mit der Tatsache, dass es in der Gesellschaft der Menschen mehr Peripherie als Zentrum geben muss, so wie es auch mehr Untergebene als Chefs gibt. Wir können nicht alle Kanzlerin werden. Bielefeld hätte es freigestanden, erhobenen Hauptes Provinz zu sein und anderen Städten das Tollsein zu überlassen. Es hätte so schön sein können, denn eigentlich ist es das in Bielefeld. Zumindest das Umland ist ganz nett. 

Bielefeld arbeitete lieber mit der offiziellen Selbstbeschreibung „Das Oberzentrum von Ostwestfalen-Lippe“. Als ich das Ende der 70er-Jahre zum ersten Mal hörte, da war es vermutlich schon passiert. Subkutan springt der Komplex auf den Jungbielefelder über. Er realisiert, als Bürger einer Stadt heranzuwachsen, die Oberzentrum einer Region sein will, die sich nicht mal zwischen zwei Himmelsrichtungen entscheiden kann und deshalb phonetisch wie mental an der Lippe hängen bleibt, so wie an den Spitzen des Jägerzauns hinter Opas Haus. Gesundes Selbstbewusstsein als Stadt klingt anders. Und was soll das überhaupt sein, ein Oberzentrum? Ich kann mich auch zum Honorarkonsul vom Fantasialand ernennen. Aber das störte Bielefeld nicht, es wollte auch groß sein. 

Deutsche spüren so was. Städte, die ihren Platz in der Hierarchie nicht bereitwillig einnehmen, kriegen es ab. Auf dem Schulhof der Republik, in den Massenmedien, wurde Bielefeld gehänselt. Wollte jemand Provinzialität schmissig auf die Formel bringen, dann fiel schnell mal das B-Wort. „Bielefeld gibt Kilometergeld“, frotzelten sie im Fernsehen, im Spiegel warnten Stadtsoziologen vor der Bielefeldisierung unserer Innenstädte, also der Ausweitung der Fußgängerzone. Und so fühlte man sich von früh an ausgegrenzt. Über den Fußballclub Arminia, so schien es, wurde irgendwie immer kürzer berichtet als über andere Fußballmannschaften. Nie wurden Bielefelder Schulklassen zu Kindersendungen wie „Pfiff“ und „Eins, zwei oder drei“ eingeladen. Die Lokalzeitung berichtete mit Aufmacher, wenn es ein Bielefelder doch mal ins Fernsehen geschafft hatte. Gab es da etwa eine schwarze Liste? Oder spielte sich das alles nur in meinem Kopf ab? 
In den Köpfen der Stadtoberen spielte es sich auch so ab. Bielefelder Stadtentwicklung war ein großer Provinzialitätsüberwindungsmasterplan. Und der Jahnplatz war der Königsweg. Mitten auf diesen Knotenpunkt, wo alle Fußgängerzonen zusammenlaufen, knallten sie Ende der 80er-Jahre eine abscheuliche Pizza-Hut-Filiale, damals die große weite Welt des kleinen Mannes. Wer am Jahnplatz nicht schnell genug das Fenster aufriss, bekam eine Leuchtreklametafel davorgeschraubt. Sie rissen die ganze Stadt auf, um die kleinste, aber im Verhältnis zur Größe teuerste U-Bahn der Welt zu bauen, die sich dann doch nur U-Stadtbahn nennen durfte. Sie engagierten abgewirtschaftete Bands wie Hot Chocolate auf Stadtfeste und in der Zeitung lancierten „se“ (in Ostwestfalen-Lippe das persönliches Fürwort zur Bezeichnung diffuser Strippenzieher) eine Zahl, wonach Bielefeld flächenmäßig zu den größten Städten Europas zählt. Dass um bei dieser Größe zu landen, die umliegenden Gemeinden in einer Art Operation Barbarossa blitz-eingemeindet worden waren, ist geschenkt. 
Wir Bürger waren willige Helfer.

Anfang der 90er-Jahre, als in Hamburg und Berlin deutsche Namen fürs Bars und Restaurants im Rahmen einer ironisch angereicherten Rückbesinnung auf Tradition fröhlich Urständ feierten, gaben die Bielefelder ihren Gastronomiebetrieben bemüht weltläufige Namen wie „New World“ und „Big Easy“ (die „Lounge“, mit der man damals wirklich noch vorneweg gewesen wäre, erreichte Bielefeld erst 15 Jahre später, und wurde dann von allen falsch betont, nämlich französisch-nasal). Man hat damals selbst mitgemacht. Hat Besucher unter Inkaufnahme von Umwegen an Leuchtreklamen vorbei in Bars mit englischen Namen geführt. Man teilte das kollektive Gefühl, allen zeigen zu müssen, dass Bielefeld unterschätzt wird. 

Auf dem Medien-Spielplatz holten sie einstweilen zum Gegenschlag aus. Die Internetgemeinde ignorierte Bielefeld nicht mal mehr, sondern stellte mit der „Bielefeld-Verschwörung“ die schiere Existenz dieser Stadt in Frage. „Aus Bielefeld kommst du? Bielefeld gibt’s doch gar nicht!“, witzelten Menschen ohne eigenen Humor auf Partys. Das Stadtmarketing hätte drauf einsteigen sollen: „Bielefeld – das gibt’s ja gar nicht!“ wäre für eine Zeit lang ein hübscher Werbespruch gewesen. Von der Zwangshandlung, sich mit Slogans selbst zu beschreiben, sind die Städte und Regionen ja doch nicht zu befreien, nicht mal Berlin. Aber vielleicht vom Selbstbetrug. Das Oberzentrum hätte sich, statt „Bielefeld macht Spaß“ in die schmunzelnde Republik hinauszuposaunen, an Hessen ein Vorbild nehmen und ehrlicher zu sich selbst werden können. So beginnt Therapie. „An Hessen führt kein Weg vorbei“ war schon nah an der Wahrheit: „Da muss man durch.“ Mein Vorschlag für Bielefeld: „Da kann man nicht meckern“. Oder, auch gut: „Bielefeld – da kann man nichts machen“. Das wäre wahre Größe.

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