Taco Hell

Dieser mexikanische Austauschschüler kam aus der Hölle

Von Anja Köhler

Pablo hatte sich unter Kontrolle. Er kaute nie an den Nägeln, wenn wir dabei waren. Aber er musste es getan haben, denn sie waren bis aufs Nagelbett weggebissen. Wir gaben ihm Pflaster, die er schnell wieder abriss. Er wippte unaufhörlich mit den Beinen, und wenn es ganz schlimm kam, wenn die Angst vor dem Unbekannten und vor dem Alleinsein in seinen Körper fuhr, atmete er wie ein alter Mann nach einem Dauerlauf. 

Ob ich bemerken würde, dass er nervös sei, fragte er mich etwa drei Tage nach seiner Ankunft aus Mexiko. Er saß am meinem Küchentisch, während ich ihm etwas zu essen „präparierte“ – wie er es immer nannte. Ja, doch, das mit der Nervosität hatte ich bemerkt. Ich hielt es für recht normal, dass ein 16-jähriger Junge, der in einem fremden Land für ein Jahr zur Schule gehen sollte, aufgeregt war. Als ich versuchte, ihn zu beruhigen, floss eine Träne seine Wange hinab. Die Mama – er vermisse seine Mama. 

Ich reichte ihm ein Taschentuch, dann noch eins und noch eins. Herrje, so hatten wir uns das nicht vorgestellt. Wir wollten einfach einem mexikanischen Jugendlichen die Gelegenheit geben, Deutschland kennenzulernen und mit uns zu leben. Wir hatten sogar die Idee, dass er hier selbstständig werden könnte und die Freiheit genießen würde. Vielleicht würde er sich sogar mit meinem ebenfalls 16-jährigen Sohn anfreunden. Wir hatten uns auf Pablo gefreut. 

Vor seiner Abreise aus Mexiko wollten seine Eltern unbedingt mit uns sykpen. Die ganze Familie hatte sich in Pablos Zimmer versammelt. Wir dachten an zehn Minuten, aber Pablos Familie hatte sich den ganzen Nachmittag freigehalten, um uns mexikanische Musik vorzuspielen und Medaillen, die Pablo bei Wettkämpfen gewonnen hatte, in die Kamera zu halten. Der Vater bat uns, dafür sorgen, dass Pablo nicht nur an Schule und Sport denke, sondern auch an Mädchen. Dabei blitzte sein Goldzahn über das verzerrte Bild. Die Oma machte mir Komplimente, die Mutter sagte, Pablo sei ein wirklich guter Junge und wir sollten ihn wie unseren eigenen Sohn behandeln, ihn lieben. 

Nun saß er in unserer Küche und begann minutiös seinen Tagesablauf in Mexiko zu schildern: „Um 6.15 weckt mich meine Mutter. Vom Wecker werde ich nie wach. Dann gehe ich in die Garage und glühe die Zündung des Ford Mustang vor, während meine Mutter Frühstück macht. Um 7.10 fährt sie mich zur Deutschen Schule, um 16.30 holt sie mich wieder ab. Zu Hause präpariert sie mir etwas zu essen, dann gehen wir einkaufen. Jeden Tag um 18.30 schauen wir alle zusammen Fernsehen. Dann kuscheln wir, anschließend kitzeln mein Vater und ich meine Mutter. Dann noch mal Essen, Hausaufgaben und ins Bett.“ Er brauche diese feste Struktur, sagte er noch, und müsse immer genau wissen, was wann passiere. 
Ob er mexikanische Musik anmachen dürfe, fragte Pablo. Natürlich – immerhin wollte ich, dass er sich bei uns wohl und wie zu Hause fühlt. Die Musik klang wie bayerische Blasmusik mit spanischen Texten. Das sei Drogendealer-Musik, ließ er mich wissen. Wie bitte? Ja, in den Dörfern und kleinen Städten würden die Drogenbosse Feste für das Volk veranstalten und Bands spielen lassen. Zu diesen Fiestas würde er auch gerne mit seinen Eltern fahren, da sei immer viel los, die Mexikaner verstünden es eben zu feiern, zu singen und zu tanzen – ganz anders als die steifen Deutschen. Dann beschrieb er mir die Drogendealer von oben bis unten: welche Hüte, welche Hemden, Hosen, Gürtel und Stiefel sie trügen und was die kosteten. Dazu zeigte er mir Bilder im Internet, auch von den Autos, die typisch für die Drogendealer seien. Seine Augen blitzten vor Entzückung, als er mir die Motorengeräusche vorspielte. Als ich ihn nach dem Essen bat, sein Geschirr selber in die Spülmaschine zu tun, raffte er sich auf, murmelte er etwas davon, dass seine Mutter gesagt hätte, er solle mithelfen und stellte die Gläser mit der Öffnung nach oben in die Maschine. 

Die Schule gefiel ihm nicht, genau so wenig wie die deutsche Musik, das deutsche Essen, die deutsche Art überhaupt. Ich hörte mich, die deutsche Kultur und das deutsche Schulsystem verteidigen. Dann kam der Tag, an dem Pablo das erste Mal alleine bei uns in der Wohnung war. Kaum aus der Schule, rief er mich auf dem Handy an und fragte, wann ich kommen würde. Hatte ich ihm doch gesagt, irgendwann am Abend. Eine halbe Stunde später klingelte es wieder. Er habe Hunger. Pablo hatte immer Hunger – aber dazu später mehr. Der Kühlschrank war voll, aber Pablo wusste weder wie man Nudeln kocht, noch, wie man sich ein Stück Fleisch brät und auch dieses deutsche Brot wolle er nicht mehr essen. Irgendetwas würde er wohl finden und ich sei in einer wichtigen Sitzung, sagte ich. Richtig ernst wurde es mit dem nächsten Anruf. Er fühle sich so krank, bekäme kaum Luft und ihm sei übel. 

Er hatte schon mit seiner Mutter in Mexiko gesprochen, die ihm riet, einen Arzt zu rufen. Und weil er es allein nicht schaffte, rief sie eben von Mexiko aus einen deutschen Notarzt, der tatsächlich kam und feststellte, dass alles in Ordnung sei. Kaum war ich zu Hause, nahm er mich in Beschlag und gestand, dass er nicht alleine sein könne und es in seinem ganzen Leben „noch keine fünf Minuten“ war. Unwillkürlich musste ich an meinen Sohn denken, um den ich mich kaum noch kümmern konnte, seitdem Pablo da war, und der mit 16 sein ganzes Leben selber organisierte. Und Pablo konnte oder wollte nicht mal fünf Minuten alleine sein?! 

Dennoch fühlte ich mich schlecht: Vielleicht müssen mexikanische Jugendliche nicht lernen, selbstständig zu werden und alleine klarzukommen, vielleicht kümmert sich die Mutter um die jungen Männer, bis die Ehefrau das übernimmt. Was für eine Mutter bin ich wohl in den Augen von Pablos Mutter? Die Antwort kam prompt. 

Ich erfuhr sie über Skype. Ich solle mich doch bitte mehr um Pablo kümmern, er sei es so gewohnt, er fühle sich so einsam. Ob ich ihn nicht häufiger mal mitnehmen könne, wenn ich geschäftlich unterwegs sei. Um mir das zu sagen, brauchte sie etwa zwei Stunden. Sie sprach über Pablo als er klein war, über die Großmutter, dankte mir, machte Komplimente, drehte weitere endlose verbale Schleifen, während Pablo hinter mir herumhippelte. Ich war erschöpft von dem vielen Reden und vom Trösten und vom Kochen. Ich koche sehr gern, aber nicht wenn es von mir erwartet wird. Und nicht viermal am Tag. 
Vier Mahlzeiten waren das mindeste, was Pablo erwartete, am liebsten fünf. Und bitte nicht immer das gleiche und möglichst viel Fleisch. Ich kochte alles, was normalerweise satt macht: Käsespätzle, Bratkartoffeln, Pfannkuchen, aber Pablo wurde nie satt. Auch nach drei Tellern nicht. Jeden Morgen gab ich ihm einen Müllbeutel voll mit Sandwiches, Müsliriegeln, Obst und Schokolade mit zur Schule. Es reichte nicht. Wenn er nach der Schule nach Hause kam, musste das Mittagessen auf dem Tisch stehen, von dem er drei Teller nahm – obwohl er auf dem Nachhauseweg schon einen Döner verdrückt hatte. Und mit Brot musste man ihm abends gar nicht erst kommen – lieber noch mal warm. Einmal habe ich ein ganzes Kuchenblech mit Nachos gemacht – mit extra viel Käse, Hackfleisch und saurer Sahne drauf. Danach schaute Pablo in die Runde, als sei das die Vorspeise gewesen. Bei seinem Verzehr hätte er aussehen müssen wie ein Sumoringer, tat er aber nicht. Wir tippten auf eine Stoffwechselkrankheit. 

Etwa zwei Wochen später, nachdem Pablo mir offenbart hatte, dass er nie nach Deutschland wollte, ihn seine Eltern aber gezwungen hätten und dass er am liebsten sofort wieder nach Hause wollte, rief einer seiner ehemaligen Lehrer von der Deutschen Schule bei uns an. Er müsse mal ein ernster Gespräch mit mir führen. Pablo fühle sich vernachlässigt, wir sollten uns mehr um ihn kümmern, immerhin sei er erst 16. Genau 16! Ich sagte ihm, dass ich mich an meinem Sohn orientiere, der in dem Alter deutlich mehr Verantwortung für sich übernehme. Ja, der Arme hätte ja unter meinem harten Erziehungsstil sicher keine Wahl gehabt, wies mich der Lehrer zurecht. Was erzählte Pablo da alles über mich? Warum musste ich hier plötzlich meine Erziehung rechtfertigen? Warum nicht Pablos Mutter, die ihren Sohn gegen seinen Willen und offensichtlich ohne mentale Vorbereitung nach Deutschland geschickt hatte und ihn per Telefon und Internet ständig an ihre virtuelle Brust nahm? Pablo tat mir unendlich Leid, aber ich konnte nicht mehr. 

Er fand eine Familie in einer kleinen Stadt in Norddeutschland. In der Nacht vor seiner Abreise konnte er nicht schlafen und ging stundenlang im Flur hin und her und kaute an seinen Nägeln bis das Blut kam.

Wenn Pablo nicht bei uns gewesen wäre, wüssten wir nicht, wie gut es uns geht – ohne ihn!

Nachtrag: Auch in der anderen Familie fühlte sich Pablo nicht wohl und ging nach insgesamt vier Monaten in Deutschland zurück nach Mexiko. Dafür hat er sogar in Kauf genommen, dass er den versprochenen VW Golf GTI nicht bekommt.

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