That’s it for a long time / Über Englands Rassismus

Die Erhebung der Entfremdeten: England hat Mühe, sich seiner kolonialen Vergangenheit zu stellen – und dem strukturellen Rassismus, der daraus folgte

Von Agomo Atambire und Oliver Gehrs

Das Bild des Londoner Stadtteils Notting Hill wurde durch einen Hollywoodfilm geprägt, in dem ein verwuschelter Buchhändler einer berühmten Schauspielerin den Kopf verdreht. Die Kulisse für diese Schmonzette mit Hugh Grant und Julia Roberts bilden heimelige Londoner Straßen mit Cafés, pakistanischen Lebensmittelhändlern und viktorianischen Bilderbuchhäuschen. Ein Idyll in der Großstadt.

Das war auch mal anders: Nach dem Zweiten Weltkrieg wohnten in Notting Hill viele Einwanderer, ein Teil der karibischen Bevölkerung wurde in den 50er-Jahren nach England geholt, um das Land wiederaufzubauen. Doch damit waren nicht alle einverstanden, zumal der schwarze Mann nicht nur um Arbeit und Brot konkurrierte, er strahlte ein enormes erotisches Bedrohungspotenzial aus – als wilder Exot, der sich an den weißen Frauen vergeht. Ein Topos, der schon in den 30er-Jahren in „King Kong“ verarbeitet wurde und heute auch in Deutschland wieder sehr beliebt ist. 
Und so zogen irgendwann Hunderte aufrechter Engländer durch Notting Hill und machten mit Eisenrohren, Ledergürteln und Steinen Jagd auf Schwarze. Sie nannten sich „Nigger hunter“ – und trotz dieser unverblümten Ansage tat sich die Londoner Polizei im Nachhinein schwer, hinter den Gewaltakten rassistische Motive zu sehen. Jugendliche Halbstarke halt, vor allem sogenannte Teddy boys, denen die Rockabilly-Musik das Hirn vernebelt hatte und die ein bisschen Dampf ablassen wollten – so stellte man es dar, und überhaupt: Hatten die Neger nicht auch 
mitgemacht? 
Ja, das hatten sie. Einige wollten sich nicht wehrlos dem Mob ergeben und waren bewaffnet zum Gegenangriff übergegangen. 
Erst 2012 wurden die Polizeiakten zu den tagelangen Vorfällen in Notting Hill freigegeben, und siehe da: Es fanden sich etliche Zeugenaussagen von Polizisten, die berichteten, dass der Mob immer wieder klargemacht hatte, dass man die Einwanderer endlich wegschaffen wollte – entweder zurück nach Jamaika oder eben ins Jenseits.

Es ist nicht das einzige Mal in der englischen Geschichte, dass von offizieller Seite die Augen geschlossen wurden, um den Rassismus in der Gesellschaft nicht sehen zu müssen. Wobei diejenigen, die die Augen zumachten, diesen Rassismus besonders verinnerlicht hatten. Die Polizei hatte über viele Jahre mit dem sogenannten „sus law“, dem Stopp- und Suchgesetz, eine Art Freibrief, um Menschen ohne triftigen Grund anzuhalten und zu verhaften. Betroffen war davon vor allem die schwarze Bevölkerung. 
Tatsächlich gab es in Londoner Vierteln wie Brixton, wo die meisten Einwanderer wohnten, die höchsten Kriminalitätsraten, was angesichts einer zeitweisen Arbeitslosenquote von fast 50 Prozent unter den Jugendlichen nicht weiter erstaunt. In diesen Gegenden lebten Menschen, die durch das soziale Netz gefallen waren, was nach dem Sieg der Konservativen Partei unter Margaret Thatcher immer schneller ging. Unter den Torys galt Arbeitslosigkeit nicht mehr als gesellschaftliches Problem, sondern als individuelles Schicksal. Viele Schwarze traf es besonders hart. Sie waren schon im Bildungssystem benachteiligt worden – zum Teil unter Anwendung kruder Theorien aus der Verhaltensforschung, die an den heutigen Sarrazin-Sound erinnern. Auf dem Arbeitsmarkt hatten sie es schwerer als Weiße (lange Zeit gab es in England keine schwarzen Busfahrer), und im Alltag mussten sie erfahren, dass sie nicht gewollt, sondern allenfalls geduldet waren. Anstatt diese angespannte soziale Situation zu ändern, entschied sich die Regierung, die Menschen öfter zu durchsuchen. 
Dass das nicht lange gut gehen konnte, war klar. 1981 entlud sich in Brixton erstmals der geballte Zorn der Entfremdeten. Nachdem es Gerüchte gegeben hatte, dass die Polizei einen verletzten schwarzen Jugendlichen in der Haft hatte sterben lassen, errichtete eine aufgebrachte Menge Barrikaden, Vandalierer zündeten Autos und Gebäude an und plünderten Läden. Es ist ein Wunder, dass es keine Toten gab. Dennoch war der Schaden enorm, auch ideell. In der traditionell pöbelseligen britischen Boulevardpresse wurden die Einwohner von Brixton zu gemeinen Kriminellen, in das gleiche Horn stieß auch Margaret Thatcher. 
An der Situation in den sozialen Brennpunkten änderte sich nichts, stattdessen kehrten die Unruhen in regelmäßigen Abständen wieder und breiteten sich im ganzen Land aus: in Liverpool, Nottingham, Manchester, Sheffield und Birmingham. Im Jahr 1985 kam es auch wieder in Brixton zu Aufständen. Abermals wurde das halbe Viertel abgefackelt, nachdem die Polizei auf der Suche nach einem Verdächtigen dessen Mutter angeschossen hatte.

„Als ich vier war, fragte ich meine Mutter, wann ich weiß werden würde, weil alle guten Menschen im Fernsehen weiß waren und alle Bösen dunkelhäutig“, schreibt die englische Autorin und Journalistin Reni Eddo-Lodge in ihrem Buch „Why I’m No Longer Talking to White People About Race“. Darin wundert sie sich darüber, wie wenig die Geschichte der Sklaverei und ihre Nachwirkungen auf die englische Gesellschaft reflektiert wurden. Sie selbst, so schreibt Eddo-Lodge, wisse viel über die Bürgerrechtsbewegung in den USA, aber wenig über die Geschichte der britischen Einwanderung. 
Dabei ist England nicht das einzige Land, das sich schwertut, sein koloniales Erbe aufzuarbeiten. Frankreich hat lange Zeit die Folgen des Algerienkriegs geleugnet. Erst im August 2018 hat mit Emmanuel Macron erstmals ein französischer Präsident Kriegsverbrechen eingeräumt und so eine friedliche Botschaft in die Banlieues gesendet, wo in den algerischstämmigen Familien der Hass auf Frankreich lange erfolgreich keimen konnte. Die USA haben vor zwei Jahren endlich an prominenter Stelle in Washington, D.C., ein Museum für afroamerikanische Geschichte eröffnet, und Deutschland veranstaltet seit Jahren einen Affentanz um eine Entschuldigung an die Adresse der namibischen Herero und Nama, weil man Angst hat, für den Völkermord 1908 die Zeche zahlen zu müssen. 
Dabei geht es den Nachfahren ermordeter oder verschleppter Menschen oftmals gar nicht primär um Entschädigungen, sondern um das Bewusstsein dafür, dass in der Vergangenheit nicht nur Menschen, Vieh, Rohstoffe, Kunstwerke, Waffen und Land geraubt, sondern die Lebenszusammenhänge etlicher Menschen zerstört wurden – was bis in die Gegenwart nachwirkt, auch weil es allumfassend negiert wird. „Bis heute weigert sich der Westen anzuerkennen, dass er uns überhaupt etwas schuldet. Er weigert sich, auf den Mühlstein von Schuld zu blicken, den er um seinen Hals trägt. Stattdessen wird immer wieder behauptet, wir würden ihm gegenüber eine Zivilisationsschuld haben“, sagt der kamerunische Schriftsteller und Politikwissenschaftler Achille Mbembe. 
Anderen Menschen die Zivilisation zu bringen, bei gleichzeitigem Verzicht auf Menschlichkeit – mit dieser Scharade hat es England geschafft, zeitweise ein Empire mit 400 Millionen Untertanen zu errichten, die man auf Zuckerrohr- oder Teeplantagen arbeiten und sterben oder auf den Schlachtfeldern kämpfen ließ. Im Ersten Weltkrieg starben 36.000 indische Soldaten, sogenannte Sepoy, für das Vereinigte Königreich. Man hatte sie mit dem Versprechen der Unabhängigkeit gelockt, war aber dann nicht bereit, es einzulösen. Bis heute sieht man auf Londons Straßen protestierende Sepoy, die um Anerkennung kämpfen. 
Soldaten aus Ghana wiederum halfen England im Ersten Weltkrieg, die Deutschen aus Togo und der Volta-Region zu vertreiben, sie schützten im Zweiten Weltkrieg in Nordafrika Ölfelder und kämpften sogar gegen die suizidalen Japaner. Als sie nach dem Krieg 
ihren Lohn einfordern wollten, wurden bei Demonstrationen in Ghanas Hauptstadt Accra zwei Soldaten getötet. 
Nicht nur in Afrika brachten Engländer Menschen um, die im Krieg Dienste für sie geleistet hatten. 1919 schmiss man einen jungen schwarzen Matrosen ins Liverpooler Hafenbecken und bewarf ihn mit Steinen, als er das rettende Ufer zu erreichen versuchte. Charles Wootton war wohl das erste Todesopfer des englischen Rassenhasses, dem die Regierung auf ihre ganz eigene Weise entgegentrat. Nach Woottons Tod und weiteren Übergriffen auf Einwanderer in Liverpool startete man eine Rückführungskampagne und schickte sechshundert Schwarze zurück in die Karibik. 
Englands Untaten sind global und riesig, wie es das Empire einst war: Man hat Millionen Menschen aus Afrika verschleppt, man machte Millionen Chinesen vom Opium abhängig, wobei die lokalen Gangsterstrukturen nach Kräften gefördert wurden, man überfiel Afghanistan, siedelte Protestanten in Irland an und rottete en passant die Urbevölkerung von Tasmanien aus. Doch der glorreiche Kampf gegen die Nazis macht es England bis heute leicht, die eigenen Verbrechen unerzählt zu lassen. 
Mit dem Commonwealth hält England sein einstiges Weltreich als Mimikry am Leben. Es besitzt auch nach wie vor Kolonien wie die Falklandinseln oder die Insel Diego Garcia im Indischen Ozean, von der man einst die Einwohner deportierte, um die Insel als Militärstützpunkt an die USA zu verpachten. Der Pachtvertrag wurde erst neulich trotz massiver Proteste verlängert. 
Immerhin sind die Engländer konsequent. „Dass die Menschen Brüder sein sollen. Und eine Familie sein. Auf der ganzen Welt“, heißt es in der dritten Strophe der Nationalhymne. Diese Strophe wird schon ewig nicht mehr gesungen.

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