Als ich ein Schwein war

Ich habe nämlich jahrelang einen dicken Mitschüler gequält

Von Gustav Falke

Es ist nicht etwa so, als hätte ich diesen Trieb, im Zweifel auch mal jemandem zu nahe zu treten, bevor ich eine Pointe sausen lasse, heute voll im Griff. Daran können sich Menschen mit einer Schwäche fürs Komische ein Leben lang abarbeiten. Kein Vergleich aber zu Schulzeiten. Was damals zum Teil als Gag durchging, ist mir auf eine Art peinlich, die sich wie die Summe aller Peinlichkeiten aus Jugendtagen anfühlt – was ja eine Hochzeit des Peinlichen ist. Einem Menschen ins Gesicht zu sagen, er sehe aus wie ein Schwein, das verbietet der Anstand und trifft ja genaugenommen auch bei niemandem außer echten Schweinen zu. Auch klammert man sich nicht gegen den Willen eines Mitmenschen auf dessen Rücken fest. Die Mitschüler haben dann immer die Sekunden gezählt, die man sich der vehementen Abschüttelbemühungen zum Trotz in dieser Huckepackposition halten konnte. Pig-Rodeo (sic!) hieß diese Disziplin, an der sich ein Grüppchen von Klassenkollegen beteiligt hat. Shame on us.

Nennen wir ihn mal Wolf-Dieter. Wolf-Dieter war der Dicke, der in jeder Jahrgangsstufe einer Schule dabei ist. Als ein auf jeden Lacher schielender Heranwachsender sitzt man leicht der optischen Täuschung auf, die Adipösen hätten einen zusätzlichen Puffer gegen emotionale Übergriffe. Soll jetzt keine Entschuldigung sein, soll nur der Erklärung dienen. Was man aber auch mal anmerken muss ist: Einige Eltern haben scheinbar nichts anderes im Sinn, als ihre Kinder qua Namensgebung und Kleidung auf dem direkten Weg in die Hänsel-Hölle einfahren zu lassen. Wolf-Dieter mit seinem roten Lockenkopf trug als Achtklässler ein Brillengestell wie Helmut Kohl zum Amtsantritt und selbst gestrickte hellblaue Pullover mit einem kleinen Schleifchen auf der Brust, das an ein Kringelschwänzchen erinnerte. Gerne in Kombination mit braunen Kordhosen, versteht sich. Ich habe nie begriffen, warum die Dicken immer zusätzlich noch hässlich angezogen wurden, mit Mode und Accessoires, die negativen Assoziationen geradezu auf die Sprünge helfen. Mein Appell an alle Eltern ist nur: Lassen Sie das, das ist nicht gut. 

Wolf-Dieters äußere Erscheinung hatte auf mich und eine handvoll Klassenkameraden die Wirkung eines biologischen Schemas, das ein instinktives Mobbingprogramm auslöst. Da spulte sich etwas ab – es herrschte operativer Sturm bei kognitiver Windstille. Bei Wolf-Dieter stimmte einfach alles: Seine ganze Familie stand gut im Futter, der Vater hatte eine Vertretung für Metzgereibedarf und die Stoßdämpfer der Familienkutsche waren dementsprechend ausgeleiert. Für uns die wunderbarsten Witzvorlagen. Erst in der Stille nach dem Gag dämmerte mir von Zeit zu Zeit, dass ich wohl mal wieder sehr verletzend war. Es dämmerte mir, schon allein weil die Mehrheit der Mitschüler vorlebte, dass man so einen Wolf-Dieter auch einfach in Ruhe lassen konnte. Aber im nächsten Moment waren diese anderen für mich und meine Mitmobber schon wieder nichts als Langweiler. Graue Masse, Publikum. Für uns kam erst das Lachen, dann die Moral. Offenbar waren wir als Klassenclowns moralische Spätzünder, die das für Überlegenheit hielten. Andererseits war unser Alltag bunter und wir beherrschten stellenweise schon einen subversiven Humor, der mir auch aus heutiger Sicht noch ganz gut gefällt. 

Was jedoch Wolf-Dieter betrifft, erscheint mir die Person, die ich damals war, in der Rückschau wie eine Figur, die manchmal noch kein eigenes Bewusstsein hat, sondern von einem unsichtbaren Bauchredner gesteuert wurde. Einem dieser Bauchredner, die auch bei Firmenjubiläen auftreten und in puncto Niveau noch eine Menge Luft nach oben haben. 

Zwei Jahre vor dem Abi sah ich den Film Flatliners, in dem sich Kiefer Sutherland, Julia Roberts und Kevin Bacon als Medizinstudenten in einem Experiment für Minuten in den Zustand des klinischen Todes versetzten und gleich danach wieder reanimierten. Nach dieser Nahtoderfahrung plagten sie wüste Tagträume, in denen sie von den Opfern ihrer früheren Schulhofhänseleien und anderen Jugendsünden verfolgt wurden. Nach diesem Film ist mein Bauchredner ruhiger geworden. Dann hat es noch einmal zwanzig Jahre gedauert, bis er sich ganz zurückgezogen hat. Das war kurz vor der Einschulung meines eigenen Kindes. „Ich sehe vielleicht aus wie ein Schwein, aber ihr seid Schweine“, hat Wolf-Dieter damals manchmal gekontert. So einen Satz würde ich meinem eigenen Sohn heute auch mit auf den Weg geben.

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