Kurts Weg

Wer Fremdenfeindlichkeit erleben will, muss nur in Deutschland umziehen

Von Oliver Gehrs

Als die meisten Menschen glaubten, dass dieses Land nie wieder vereinigt würde, und die Regierung unter Erich Honecker fleißig Besatzungsgeld für den Fall eines Durchmarsches bis hin zum Rhein druckte – da reiste Kurt Zirwes aus dem Rheinland durch die Märkische Schweiz und half mit, ziemlich schweres Gerät in den Osten zu bringen, das beim Bau der Erdgas-Trasse Druschba in der Ukraine benötigt wurde. Denn dort schweißten DDR-Arbeiter große Pipeline-Rohre und damit auch irgendwie die Freundschaft zur Sowjetunion zusammen – mit technischer Unterstützung durch den Klassenfeind. Auch so eine Geschichte.

Zirwes arbeitete damals für ein Logistikunternehmen und wenn er mal ein paar Minuten ganz unlogistisch dachte, dann sah er sein späteres Leben vor sich: Hier in der Märkischen Schweiz mit Frau und Kindern in einem eigenen Haus mit ein wenig Land drumherum. Keine Logistik mehr, sondern etwas, das man auch von zu Hause aus erledigen kann, um mehr Zeit für sich und die Familie zu haben. 
Kurt Zirwes, damals fast Mitte 30, war für vieles offen. Er hatte nur wenig Vorurteile und wenn, dann ganz universelle. Für vier Jahre hatte er sich als Fallschirmjäger bei der Bundeswehr verpflichtet – aber dann vorzeitig gekündigt, weil er die atomare Aufrüstung Mitte der 80er als Verrat an den Idealen der Bundeswehr empfand. Der Osten und der Westen – Zirwes hätte damals nicht sagen können, ob eins davon besser war. 
Er fühlte sich unabhängig und frei für ein neues Leben. Und als die Mauer fiel zog Zirwes mit seiner Frau nach drüben – erst ins berlinnahe Friedrichshagen am Müggelsee, später in die Nähe von Strausberg, nach Ruhlsdorf. „Zwei Stunden nach Leipzig, zwei ins Riesengebirge, zwei an die Ostsee – zentraler kann man in Deutschland nicht wohnen“, sagt Zirwes noch heute. „Es ist ein Geschenk, hier leben zu dürfen.“  
An der Straße im Dorf fand er ein spitzgiebeliges Haus, das wegen eines einstigen DDR-Ministerrats-Beschluss, wonach Großbürgerhäuser mit Krümelputz zu verschandeln waren, nicht unbedingt einladend aussah. Aber es war ein Haus, aus dem sich etwas machen ließ, und das ein wunderbares, großes Grundstück dahinter hatte, sanft abfallend zu einem See, in den die Bauern der Umgebung ihre stinkende Gülle leiteten. 
Aber das wusste Kurt Zirwes noch nicht und wenn er es gewusst hätte, dann hätte er das Haus dennoch gekauft. Weil er immer daran glaubt, dass sich Menschen ändern können. Dass sie aus Fehlern lernen und an die Zukunft denken. So gesehen war es Pech, dass es Zirwes ausgerechnet dorthin verschlug, wo man mit der Zukunft eher wenig am Hut. In Brandenburg kann man ziemlich schnell an so einem Ort landen. 

Als Brandenburgs neuer und alter Ministerpräsident Matthias Platzeck am 27. September 2009 eine Koalition mit der Linkspartei bildete – da dauerte es nicht lang, bis in der neuen Regierung die ersten Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurden. Platzeck plädierte daraufhin für eine Versöhnung mit ihnen und zog einen Vergleich zum ehemaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, der einst die Wiedereingliederung der ehemaligen Mitglieder der Waffen-SS gefordert hatte. Was Platzeck nicht sagte: Die ehemaligen Funktionäre der DDR müssen gar nicht resozialisiert werden, weil sie nie aus der Gesellschaft verschwunden waren. Selbst in den brandenburgischen Ortsvereinen der CDU sitzen zuweilen mehr IMs als ehemalige Dissidenten.

Zehn Jahre nach der Wende gibt es in Brandenburg genügend Orte, die den Aufbruch geschafft haben. Die gestressten Berlinern Entspannung bieten mit Golf, Yoga oder ganz allgemein Wellness, mit Gasthäusern, in denen Gäste nicht im Kasernehofton willkommen geheiße werden und die auch anderes als Soljanka auf der Karte haben, die das Handwerk pflegen, Produkte vom Biohof anbieten und ihre Seen sauber halten. Es gibt ja auch Potsdam, wo Prominente wie Günter Jauch wohnen und man vor der Kulisse des Marmorpalais im Heiligen See planschen kann. Es gibt aber auch Orte, die weit abseits dieser Welt existieren. Die nicht in der ehemaligen DDR liegen, sondern in der heutigen. Und Strausberg ist ihre inoffizielle Hauptstadt. 
Es liegt wahrscheinlich daran, dass die Geschichte Strausbergs eng mit dem Überwachungsstaat verbunden ist. 1954 wurde hier der Hauptstab der Kasernierten Volkspolizei stationiert, nach Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) wurde er zum Ministerium für Nationale Verteidigung umgebildet. Zudem wurde der Großteil der offiziellen Dokumente in Strausberg gedruckt, darunter Zeugnisse und Reisepässe. Vielleicht kann man es so sagen: Strausberg war das militärische Herz der DDR. 
Aus Strausberg kam auch ein Regiment, das geschlossen den Befehl verweigerte, als es in Leipzig auf die Demonstranten losgehen sollte, die statt Waffen aber nur Kerzen in den Händen trugen. Diese Soldaten hatten es anschließend schwer, noch Arbeit zu finden, auch die Bundeswehr, die sich mittlerweile vor Ort breitgemacht hat, übernahm sie nicht. Verrat ist Verrat, in Ost und in West. 
Vielleicht ist das die Ironie der Geschichte: Dass Kurt Zirwes ja auch so einer ist. Ein Soldat, der nicht mehr mitmachen wollte. Der einfach abgehauen ist. 600 Kilometer von Zons am Niederrhein bis fast an die polnische Grenze hinter sich gebracht hat, um ausgerechnet hier im ehemaligen militärischen Sperrgebiet von sanftem Tourismus und Lavendelfeldern zu träumen. 

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Zirwes hat sein Haus mit Lerchenbrettern verschalt, so dass es nun von weiten aussieht wie ganz aus Holz. Er hat sich einen Kamin gebaut und im Wohnzimmer Fliesen verlegt, die wirken wie Dielen. Er hat draußen aus alten Feldsteinen ein kleines Gästehaus gebaut und große Tische im Garten, an die man sich setzen könnte – in großer Runde. Aber die Runde ist immer kleiner geworden. „Ich habe viele kommen und gehen sehen“, sagt Zirwes. Leute wie ihn, die dachten, sie könnten hier mitten in Brandenburg ein Leben wie in der Provence führen und die Menschen, denen der Frust aus allen Poren kam, anstecken mit ihrem Enthusiasmus. 
Gegangen ist auch seine Frau, die es nicht mehr ausgehalten hat: All die Anfeindungen, die zerstochenen Reifen, die Scheiße, die man ihnen vor die Tür kübelte. Vielleicht auch Zirwes` Sturheit, die ihn all das aushalten ließ. Auch den Tag, als gleich drei Ämter vor der Tür standen, die lieber nach der Größe der Hundehütte für Ziwes` Mischling fragten und dem Bauantrag für die große alte Wurzel im Garten, anstatt sich um die wilden Sondermüll-Deponien in der Nähe zu kümmern. Auch die Schläge, die es setzen sollte, als man versuchte, ihn mitten am Tag aus dem Auto zu zerren. „Erst seit 1994 habe ich keine Angst mehr um mein Leben“, sagt er. 
Seine Frau ist also gegangen –¬ als Journalistin hatte sie bei der Lokalzeitung sowieso keine Chance. Die „Märkische Oderzeitung“ gehört wie all die anderen ehemaligen Parteiorgane im Osten mittlerweile einem westdeutschen Verlag, aber am Programm und den Machstrukturen hat das nichts geändert. Das wäre auch schlecht für die Auflage.

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Seit zehn Jahren ist Zirwes nun allein erziehender Vater – die Tochter, die 1994 zur Welt kam, blieb bei ihm. Sein Sohn, der damals, als sie hierhin zogen, 16 war, ist schon lange fort. „Was willst Du denn noch da?“ Das fragt er seinem Vater immer wieder. 
Zirwes lebt heute vor allem von seinem Ersparten. Er engagiert sich in der Gegend für Kleinkunstprojekte wie das „Theater untendrunter“ in Buckow oder einen Holzbildhauer im Nachbarort, den die Alteingesessenen genauso argwöhnisch beäugen wie ihn. Er würde gern mit der Vermarktung von Kunst, Kultur und Lebensart Geld verdienen – ein paar Stunden in der freien Natur arbeiten und dann, von der Natur seelisch und geistig erfrischt, wieder am Computer sitzen und ein bisschen was dazu verdienen. So eine Mischung schwebt ihm vor. 
Aber sein Computer hat keinen Internetanschluss, oder nur einen, mit dem sich nichts verdienen lässt. Eine Breitbandverbindung wird nicht gelegt, obwohl er zigmal auf den Ämtern war, und die EU sogar Fördermittel vergibt, um die strukturschwache Region aufzuwerten. Aber diese Gelder lassen die Politiker vor Ort lieber liegen. Und Zirwes ahnzt auch, warum. „Das ist Klassenkampf mit anderen Mitteln. Eine Art Berufsverbot.“ 
Bevor er hier einzog, haben allein zwischen 1950 und 1990 zwanzig verschiedenen Parteien in seinem Haus gewohnt. Für die Gegend ist das nichts Ungewöhnliches. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man die ordentlichen Staatsbürger in den Plattenbauten der Städte angesiedelt, die nicht so ordentlichen schob man in ländliche Gegenden ab, zu denen sie keinen Bezug hatten. Gegenden, mit denen sie umgingen, als gebe es kein morgen. Noch heute gibt es in der Umgebung von Ruhlsdorf Siedlungen, deren Bewohner ihren Müll im Garten vergraben. Es gibt Landwirte, die Sondermüll unter die eigene Ackerkrume schieben – und direkt nebenan lebt ein Bauer, der mitten im Naturpark Märkische Schweiz den Gen-Mais von Monsanto anbaut. Seitdem kann der amerikanische Saatgut-Multi in China behaupten, seine Produkte würden in Deutschland sogar in Umweltschutzgebieten verwendet. In Wahrheit hat das viele Imker rund um Strausberg die Existenz gekostet, weil es die Bienen nicht schert, ob die genmanipulierte Pollen sammeln oder die, die als Bio durchgehen.

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Kurt Zirwes, der Rheinländer, spricht nie von Ossis und Wessis. Er sagt: Ostgoten und Westgoten. Die Westgoten durchquerten einst innerhalb zweier Generationen das halbe römische Reich und fügten den Römern empfindliche Niederlagen zu, bevor sie in Aquitanien sesshaft wurden. Er, Kurt, ist einer von ihnen. 
„Wenn man wissen will, was Fremdenhass ist, muss man nur in Deutschland umziehen“, sagt Zirwes. Das sei nicht nur hier so, aber hier schon der Hammer. 
Wie geht Kurts Weg nun weiter? Er wird bleiben, es geht gar nicht anders. Erstens glaubt er an das Gute im Menschen, zweitens: Wo soll er denn hin, nach all den Jahren? 
Er wird weiter Feldsteine sammeln, um seinem Haus irgendwann mal einen urtümlichen Sockel zu verpassen, er wird irgendwann sogar schnelles Internet haben, das ist er sicher. 

Wenn man über das weite Land läuft, das sich hinter Kurt Zirwes Häuschen erstreckt, gelangt man zu einem See, dessen vereiste Fläche man im Winter oft überqueren kann, der See ist nicht groß und nicht tief. Immer weiter, dann stößt man auf einen zugewachsenen Atombunker, auf denen vermummte Gestalten mit Gewehren herumklettern, das sind die Paintball-Spieler, die sich mit Farbkugeln beschießen und im Kopf vielleicht auch mit echten. Und in der Nähe, in Harnekop, gibt es ein NVA-Museum, wo man Abhör-Wanzen und Funkgeräte bewundern kann. 
Wo sind eigentlich die ganzen Waffen der Betriebskampftruppen geblieben? Und was ist, wenn mal so ein krebskranker ehemliger NVA-Soldat schießend durch die Gegend rennt? Das sind so Fragen, die sich Kurt Zirwes stellt. Er fragt sie nicht laut, aber er hat sie im Kopf. Und hier haben sie ein gutes Gespür für Leute, die das Falsche denken.

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